Washington nimmt das Land unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel als eine Macht wahr, die nicht bereit ist, ihre außenpolitischen Verpflichtungen in vollem Umfang wahrzunehmen – also ihre Muskeln spielen zu lassen und, wenn nötig, auch militärische Gewalt in Betracht zu ziehen. Die USA beobachten das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau schon seit längerer Zeit mit Unbehagen, und dieses Unbehagen verstärkt sich noch weiter dadurch, dass sich Deutschland nach Meinung der Amerikaner schwertut mit einer raschen und energischen Reaktion auf die Krise in der Ukraine. Bedenken über die Berliner Berechenbarkeit und den Einsatz für das transatlantische Freihandelsabkommen sind wieder neu entstanden.
Zugleich erlebt Washington, wie die Kanzlerin eine schwerfällige Europäische Union energisch und diplomatisch durch die Eurokrise steuert. Diesbezüglich ist ihr Ruf so solide wie die Volkswirtschaft des Exportweltmeisters, den sie seit neun Jahren regiert. Dass sie ungeachtet aller Kritik an ihrem Pochen auf Austerität und an ihrem Nein zu Konjunkturprogrammen verlässliche Führungsstärke zeigt, hat ihr großen Respekt eingebracht.
Wenn die Kanzlerin mit diesem zweigeteilten Profil in den USA eintrifft, wird die Spannung zwischen dem Washingtoner Misstrauen und Argwohn auf der einen Seite und der Bewunderung und dem Respekt auf der anderen Seite sie dort auf Schritt und Tritt begleiten. Damit wird sie fertig werden müssen, denn in ihren Gesprächen mit Präsident Obama will sie dreierlei erreichen.
Koordinierung in Sachen Ukraine
Die Ukraine ist das alles dominierende Thema auf der transatlantischen Agenda. Die Kanzlerin wird im Weißen Haus keinen Zweifel daran lassen, dass sie auch weiterhin der westlichen Haltung treu bleiben wird, die darin besteht, Russland als Unruhestifter in der Ostukraine Einhalt zu gebieten. Trotz einer neuen Sanktionsrunde der USA und der EU wird Merkel weitere Maßnahmen zur Sprache bringen, mit denen beide Seiten den Druck auf den Kreml weiter erhöhen können. Genauso klar wird sie allerdings auch darauf hinweisen, wie schwierig es ist, innerhalb der EU Geschlossenheit zu wahren und gleichzeitig den Widerstand der deutschen und europäischen Privatwirtschaft gegen die Sanktionen zurückzudrängen. Sie wird deutlich machen, dass sie angesichts dieser Herausforderungen einen etwas anderen Weg einschlagen muss, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.
Dennoch besteht zwischen Merkel und Obama beim Thema Ukraine mehr Einigkeit als in allen anderen Fragen. Beide wissen, wie wichtig in der Politik ein bedächtiges und überlegtes Entscheidungsverhalten ist. Einen echten Erfolg hat die Kanzlerin dann errungen, wenn es ihr gelingt, die Krise in der Ukraine dazu zu nutzen, den transatlantischen Beziehungen eine neue Bestimmung zu geben, von denen auch die laufenden Gespräche über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP profitieren könnten.
Das transatlantische Freihandelsabkommen voranbringen
Kanzlerin Merkel hat ein transatlantisches Freihandelsabkommen vorgeschlagen, das auf beiden Seiten des Atlantiks das Wachstum ankurbeln und neue Arbeitsplätze schaffen soll. Seit Beginn der Verhandlungen im letzten Sommer hat sie sich allerdings wegen der heftigen Kritik in Deutschland mit öffentlichen Äußerungen zu diesem Abkommen zurückgehalten. Präsident Obama stößt unterdessen im Kongress auf Widerstand gegen die Erneuerung der dringend benötigten Trade Promotion Authority (TPA), die ihn zum Abschluss von Freihandelsabkommen bevollmächtigt. Die Krise in der Ukraine bietet sowohl der Kanzlerin als auch dem Präsidenten eine Gelegenheit, ihre jeweilige Agenda voranzubringen. Was die Kanzlerin betrifft, können die wachsenden Besorgnisse angesichts der Energieabhängigkeit Europas von Russland neues Interesse an einem Freihandelsabkommen wecken, in dem eine transatlantische Energiekooperation verankert würde.
Ein Dialog über die NSA-Aktivitäten in Deutschland
Die mutmaßlichen Aktivitäten der NSA in Deutschland haben das Fundament der deutsch-amerikanischen Partnerschaft untergraben: das Vertrauen. Berlin betrachtet die Beziehungen heute im Licht der NSA-Affäre, doch Washington weigert sich hartnäckig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Kanzlerin Merkel wird Präsident Obama daher erneut drängen, ein Thema anzusprechen, das er lieber unter den Teppich kehren würde. Da ein No-Spy-Abkommen zwischen den beiden Ländern unmöglich ist, wird sich die Kanzlerin zumindest um die Zusage bemühen, dass man in einen ernsthaften bilateralen Dialog über das künftige Ausmaß der US-Überwachungsaktivitäten in Deutschland eintritt. Hierfür muss sie dem Präsidenten begreiflich machen, dass dieses Thema nicht von der deutschen Agenda verschwinden, sondern weiterhin dafür sorgen wird, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen ihr Potenzial nicht voll entfalten können. Wenn ihr dies gelingt, kann die Bundeskanzlerin ihrer Anhängerschaft im eigenen Land zeigen, dass sie die Amerikaner erfolgreich dazu gebracht hat, sich eine Diskussion anzuhören, die sie sich anhören sollten.
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Die deutsch-amerikanischen Beziehungen mögen mitunter frustrierend und nervenaufreibend sein. Die Krise in der Ukraine gibt aber den Regierungschefs beider Länder die Gelegenheit, ein Signal fester transatlantischer Geschlossenheit nach Moskau zu senden. Dies allein ist schon mehr als alles, was in den letzten Jahren hätte erreicht werden können. Die Kanzlerin wird ihren Besuch jedoch auch dazu nutzen, um Verständnis für Europas komplexeres und stärker verflochtenes Verhältnis zu Russland zu werben, den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen neue Impulse zu geben und Deutschlands Abscheu vor der augenscheinlich hemmungslosen Schnüffelei der NSA zu bekräftigen. Alle drei Ziele zu erreichen, ist alles andere als eine leichte Aufgabe.
Annette Heuser ist Executive Director der Bertelsmann Foundation in Washington, DC.
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