Porträtfoto von Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung

Fünf Schritte zu einer erfolgreichen Integration

Das Flüchtlingsthema ist allgegenwärtig. Jeder Tag bringt neue Herausforderungen und die Stimmung ändert sich. Wenn wir es schaffen wollen, einer so großen Zahl von Flüchtlingen und den Belangen unserer Gesellschaft gerecht zu werden, sind kreatives Denken und große Erfahrung gefragt. Die Bertelsmann Stiftung startet dazu zeitgleich eine Reihe von Projekten und Aktivitäten. Ein Beitrag von unserem Vorstandsvorsitzenden Aart De Geus.

Infos zum Text

Exklusiver Auszug aus dem neuen change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2016 (gekürzte Fassung).

Rund 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Schaut man auf den „Global Trends Report“ des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, der seit 1951 vergleichbare Zahlen über Krieg, Vertreibung und Verfolgung sammelt, wurden allein 2014 insgesamt 13,9 Millionen Menschen weltweit zu Flüchtlingen oder Binnenvertriebenen – viermal so viele wie noch 2010. Weltweit gab es rund 19,5 Millionen Flüchtlinge, 38,2 Millionen Binnenvertriebene und 1,8 Millionen Asylsuchende, die noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warteten. Eine Entwicklung, die 2011 mit dem Ausbruch des Krieges in Syrien begann und zu der in den vergangenen fünf Jahren laut UNHCR weitere neue Konflikte hinzukamen wie in Afrika (Côte d’Ivoire, Zentralafrikanische Republik, Libyen, Mali, Nordost-Nigeria, Südsudan und Burundi), im Nahen Osten (Irak und Jemen), in Europa (Ukraine) und in Asien (Kirgisistan und in einigen Gebieten von Myanmar und Pakistan).

Gefährliche Fluchtwege

Die Situation ist sehr schwierig und scheint ausweglos. Krisen und Kriege, die nicht enden wollen und die jeden Tag weiter Flucht und Vertreibung verursachen. So konnten 2014 nur 126.800 Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren – die niedrigste Zahl seit 31 Jahren. Rund die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge kommen aus Syrien, Afghanistan und Somalia. Ihr Weg ist weit, wird immer begrenzter, immer gefährlicher. Allein 2014 kamen 218.000 Menschen aus Afrika oder Asien mit dem Boot übers Mittelmeer. 3.500 verloren dabei ihr Leben. Menschen, die auf ihrem Weg in die von Kritikern häufig als „Festung Europa“ bezeichnete EU ertrinken, erfrieren oder verhungern.

Zahlreiche Flüchtende nehmen die „Zentrale Mittelmeerroute“, die von der Stadt Agadez in Niger nach Libyen und von dort mit Booten weiter auf die italienischen Inseln Lampedusa und Sizilien oder nach Malta führt. In den vergangenen zehn Jahren starben oder verschwanden auf diesem Weg über 10.000 Menschen. Andere Wege nach Europa sind die „Östliche Landroute“, die von der Ukraine nach Polen und in die Slowakei führt, die „Westliche Balkanroute“, bei der die Menschen über die Türkei und Griechenland nach Ungarn oder Rumänien kommen, sowie die stark frequentierte „Östliche Mittelmeerroute“, die in verschiedenen ostafrikanischen Ländern beginnt und über Ägypten, Jordanien, Libanon und Syrien in die Türkei und dann per Boot auf eine der griechischen Inseln oder das Festland führt. Dazu kommen die „Westafrikanische Route“ über Marokko in die Westsahara oder über Mauretanien auf die Kanarischen Inseln, die „Westliche Mittelmeerroute“ über die spanischen Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla nach Spanien sowie die „Route über Apulien und Kalabrien“.

Wege voller Hoffnung, die oft in bitterer Enttäuschung enden. Denn die Erwartungen an Europa sind groß. Nicht selten locken Schlepper mit völlig unrealistischen Versprechungen. Nicht selten werden Bürokratie und kulturelle Unterschiede unterschätzt. Schaut man auf die EU, so werden dort die meisten Asylanträge in Deutschland und Schweden gestellt. Insgesamt wurden in Europa bis Ende 2014 rund 6,7 Millionen Menschen gezählt, die ihre Heimat verlassen mussten: Ein Viertel davon waren syrische Flüchtlinge in der Türkei. Noch 2013 waren es in Europa nur insgesamt 4,4 Millionen.

"Die Erwartungen der Flüchtlinge an Europa sind groß!"

Aart De Geus

Eine riesige Herausforderung

Die Lage in Deutschland ändert sich täglich. Einer bislang nie geahnten Hilfsbereitschaft stehen Fremdenhass und Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte gegenüber. Neben völlig überlasteten Städten und Gemeinden, in denen die Stimmung zuweilen kippt, gibt es auch immer wieder neue Erfolgsgeschichten. Wie die Flüchtlingskrise, die uns alle seit Monaten begleitet, gelöst werden kann und welche Folgen Kriege und Krisen in der Welt auf lange Sicht für uns haben, weiß wohl kaum jemand vorauszusagen. Und doch: Deutschland hat schon mehr als einmal bewiesen, dass es mit Krisen umzugehen weiß.

Ohne dass es uns immer bewusst ist, leben wir Integration. Tag für Tag. Laut Auswärtigem Amt leben fast drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland, mehr als die Hälfte von ihnen hat einen deutschen Pass. Insgesamt leben in Deutschland mehr als acht Millionen Ausländer. Und schaut man noch etwas weiter zurück in unsere Geschichte, so stammen schätzungsweise 20 Millionen Deutsche von Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ab.

Doch diese Welle der neuen Herausforderungen, der neuen Krisen und immer neu aufkeimenden Kritik setzt Deutschland unter einen enormen Druck, kurzfristige Lösungen zu schaffen. Angesichts unserer demographischen Entwicklung von Alterung und Bevölkerungsrückgang ist der Zustrom so vieler Menschen aber zugleich auch eine wichtige Chance für Deutschland. Wir müssen lernen, damit umzugehen, derzeit eines der attraktivsten Einwanderungsländer der Welt zu sein. Das bedeutet auch, dass es immer dringender wird, klare Ziele und Lösungen für ein „Einwanderungsland Deutschland“ zu entwickeln. Dazu gehört insbesondere neben der Steuerung der Einwanderung auch die Gestaltung des Zusammenlebens in einer heterogener werdenden Gesellschaft.

Lösungsvorschläge für Deutschland

Nachdem anfangs die Frage im Vordergrund stand, wie den Hilfesuchenden das Ankommen erleichtert werden kann, sind in den letzten Monaten zunehmend die Herausforderungen der kurzfristigen Aufnahme dieser großen Zahl von Menschen in den Vordergrund getreten. Politische Entscheidungsträger, die zuständigen Institutionen und die Akteure vor Ort standen zunächst weitgehend unvorbereitet vor den Entwicklungen. Im Bemühen, der neuen Situation gerecht zu werden, bewegen sich alle Akteure seitdem in einem Spannungsfeld zwischen dem Gebot der Humanität und begrenzter Kapazitäten und Leistungsfähigkeit.

In dieser Lage ist mehrgleisiges Vorgehen erforderlich: Zuallererst müssen ein reibungsloses Ankommen und eine gelingende Integration sichergestellt werden. Zweitens muss aber auch die Zahl der Menschen verringert werden, die sich gezwungen sehen, aus ihren Heimatländern zu fliehen. Und drittens sollte eine gerechtere Verteilung der Hilfesuchenden auf die Länder Europas erreicht werden.

"Wir möchten dazu beitragen, den oft von großer Unsicherheit geprägten Diskurs zu versachlichen, bei praktischen Lösungen zu helfen und dauerhafte Lösungsvorschläge zu entwickeln."

Aart De Geus

Unser realistischer Anspruch kann nur sein, einen punktuellen Beitrag zu leisten, indem wir Impulse geben, Konzepte erarbeiten, Wissen transferieren und skalierbare Lösungen entwickeln. Grundlage all unserer Aktivitäten ist eine klare Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Migranten sowie eine spezifische Bestandsaufnahme der bestehenden Mängel und der bereits angelaufenen Maßnahmen. Flucht und Migration betreffen alle Ebenen staatlichen Handelns. Deshalb nehmen wir alle Akteure in den Blick –  das gilt für Kommunen, Länder, Bund, die EU und auch die Herkunftsländer. Mit Blick auf die künftigen Entwicklungen haben wir fünf Bereiche definiert, die die Herausforderungen und Erfahrungen von Flüchtlingen und Migranten sowie des Aufnahmelandes widerspiegeln:

1. Aufbruch und Flucht

In diesem Arbeitsfeld widmen wir uns den Ursachen von Vertreibung und Flucht sowie der Suche nach gemeinsamen europäischen Antworten auf die Flüchtlingsbewegung. Außerdem müssen wir mit unseren Nachbarn gemeinsame Asylverfahren finden, die den europäischen Werten und gewachsenen Anforderungen gleichermaßen gerecht werden. Bei all unserem Engagement in Deutschland und Europa sollten wir nicht vergessen, dass eine langfristige und nachhaltige Lösung der aktuellen Krise an ihren Wurzeln ansetzen muss. Wir wollen auf die Herkunftsländer schauen, die von Krieg und Armut geprägt sind, denn uns ist bewusst, dass an allererster Stelle das verstärkte Bemühen der Europäer – im Zusammenspiel mit der internationalen Gemeinschaft – stehen muss, damit die Ursachen für Flucht und Auswanderung bekämpft werden können. Außerdem müssen die Anrainerstaaten der Krisenländer unterstützt und die Fluchtrisiken minimiert werden.

2. Integration vor Ort

Hier werden Konzepte und konkrete Vorgehensweisen entwickelt, um den Geflüchteten zu helfen, die bürokratischen Verfahren zu meistern und in den Kommunen vor Ort Fuß zu fassen. Zivilgesellschaftliche Akteure spielen hier eine bedeutende Rolle. Allein aus humanitären Gründen und vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte sind wir in der Pflicht, Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, Zuflucht zu gewähren. Unsere Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft sind gefordert. Dass Menschen motiviert sind, denen zu helfen, die gerade Flucht und Vertreibung erlebt haben und auf den Beginn eines neuen, sicheren Lebens in Deutschland hoffen, zeigen zahlreiche unserer Projekte, zum Beispiel „Unternehmen für die Region“. Zahlreiche Firmen engagieren sich – von der Hilfe für traumatisierte Flüchtlingskinder in Flensburg bis hin zu Sprachtrainings und ersten Schritten auf dem Arbeitsmarkt in Augsburg. Ein Blick auf die „Landkarte des Engagements“ genügt, um zu sehen, dass die Menschen in unserem Land die Initiative ergreifen und helfen.

3. Integration durch Bildung

Die unabdingbare Voraussetzung für die Integration in Arbeitswelt und Gesellschaft ist Bildung. Dieses Arbeitsfeld konzentriert sich vor allem auf Kinder und Jugendliche. Unabhängig davon, welche Voraussetzungen er mitbringt, sollte jeder junge Mensch mit den bestmöglichen Bildungschancen versehen werden. Dabei gilt das wichtigste Augenmerk den Sprachkompetenzen. Auch Musik als universelle Sprache kann hier einen großen Beitrag leisten. Die Integration von Flüchtlingen in unser Bildungssystem birgt enorme Chancen für die Integration. Doch misslingt sie, bedeutet das automatisch Stagnation und Ausgrenzung. Nichts ist so wichtig wie Bildung, wenn es darum geht, in einer Gesellschaft Fuß zu fassen und selbständig eigene Wege zu gehen. Neben zahlreichen laufenden Projekten haben wir uns deshalb entschieden, die Initiative „Kiron“ zu unterstützen. Denn obwohl ein substantieller Anteil der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge ein Studium aufnehmen könnte, sind nicht nur beschränkte Kapazitäten, sondern auch fehlende Dokumente und Sprachbarrieren oft unüberwindbare Hürden, um sich tatsächlich einzuschreiben. Für dieses Problem bietet „Kiron“ eine Lösung: Die Berliner Initiative hat in Zusammenarbeit mit akademischen Partnern ein kostenloses Studienprogramm speziell für Flüchtlinge entwickelt.

4. Integration in Arbeit

Arbeit bildet den Schlüssel zur Teilhabe in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dafür arbeitet die Stiftung beispielsweise an Instrumenten, mit denen Flüchtlinge einen qualifikationsadäquaten Einstieg ins Erwerbsleben finden sollen. Deutschland ist EU-weit Schlusslicht bei der Bearbeitung von Asylanträgen. Bei der Bundesanstalt für Migration und Flüchtlinge BAMF stapelten sich Anfang Februar noch 370.000 unerledigte Asylanträge aus den Vorjahren. Weitere 300.000 – 400.000 Flüchtlinge haben noch nicht einmal einen Antrag stellen können. Eine fatale Situation, denn die fehlende Planungssicherheit erschwert Flüchtlingen eine schnelle Eingliederung in den hiesigen Arbeitsmarkt. Geht es nach einer repräsentativen Meinungsumfrage der Bertelsmann Stiftung, wollen dies aber 84 Prozent der Deutschen den Zuwanderern ermöglichen. Die Studie empfiehlt ein Maßnahmenpaket, um Flüchtlinge rascher in Arbeit zu bringen.

5. Zusammenhalt der Gesellschaft

Dieses Arbeitsfeld befasst sich schließlich mit der Frage, wie der Zusammenhalt der immer bunter werdenden Gesellschaft gewahrt und gestärkt werden kann. Der Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt steht dabei im Mittelpunkt. Der Weg in Bildung und Arbeit ist ein erster großer Schritt zur gesellschaftlichen Integration. Doch ein wirkliches „Ankommen“ bedeutet mehr: das Leben in der Kultur der anderen, Teil sein in unserer Gesellschaft, ohne dabei die eigenen kulturellen Wurzeln zu verdrängen. Denn auch wenn der Blick auf die Situation in den Herkunftsländern heute noch nicht daran glauben lässt – langfristig könnte noch eine sechste Dimension hinzukommen, die für viele noch immer Hoffnung bedeutet: die „Rückkehr“ der Flüchtlinge und Migranten in ihre Herkunftsländer, ihre Heimat.

Keine Frage, die Herausforderungen sind gewaltig. Aber, um unseren Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu zitieren, der sich im Februar 2016 auf dem Bertelsmann Forum äußerte:

"Es ist uns nicht erlaubt, zu scheitern und nicht alles zu versuchen, diese Probleme zu lösen."

Frank-Walter Steinmeier, Außenminister der Bundesrepublik Deutschland

Darin stimme ich ihm zu.

 

Mehr über die Aktivitäten der Bertelsmann Stiftung zum Thema Flüchtlinge erfahren Sie immer aktuell auf unserer Dossier-Seite: www.bertelsmann-stiftung.de/fluechtlinge