Blick auf das britische Parlament in London von einer Brücke aus. Im Vordergrund verläuft eine Straße. Über dem Parlament sind dunkle Regenwolken aufgezogen.

Neuwahlen in Großbritannien: Wird aus Härte Feindschaft?

Am 8. Juni stehen Großbritannien Neuwahlen ins Haus. Stärken die Briten Premierministerin Theresa May den Rücken für die kommenden Brexit-Verhandlungen? Und wenn ja: Wie wird die Regierungschefin dann gegenüber der EU auftreten?

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Eine Analyse von Professor Iain Begg. Er forscht am European Institute der London School of Economics and Political Science (LSE) und ist Co-Autor des in Kürze erscheinenden Länderberichts Großbritannien unserer Sustainable Governance Indicators (SGI).

Theresa Mays Entscheidung, nur zwei Jahre nach der letzten Parlamentswahl und ein Jahr nach dem knappen Ja zum Brexit vorgezogene Neuwahlen auszurufen, macht deutlich, welche Macht die Premierministerin im politischen System Großbritanniens genießt. Mit ihrem entschlossenen Vorgehen setzt sich May, die bislang nicht durch eine Wahl legitimiert ist, rücksichtslos über den Fixed Parliament Act hinweg – obwohl sie wiederholt beteuert hatte, keine Neuwahlen anzustreben. Das Gesetz war von ihren Vorgängern mit dem Ziel verabschiedet worden, es schwieriger zu machen, Wahlen zu einem politisch günstigen Zeitpunkt auszurufen. Es überrascht, dass sich dagegen kaum Widerstand regte.

Die vorgezogenen Wahlen bestätigen weitestgehend eine Schlussfolgerung aus dem in Kürze erscheinenden Länderbericht Großbritannien der "Sustainable Governance Indicators" 2017 (SGI) der Bertelsmann Stiftung, nämlich dass "eine wesentliche politische Herausforderung darin besteht, die parlamentarische Mehrheit zu konsolidieren, die May für ihren gewählten Kurs bei EU-Austritt braucht." Der Bericht macht weiter deutlich, dass die britischen Konservativen nur über eine kleine Mehrheit verfügen, die sich in unnachgiebige Euro-Skeptiker und Pro-Europäer aufspaltet, was die Verhandlungen schwierig gestalten könnte.

Wahlen in Europa

London muss mehr Rücksicht auf die 48 Prozent nehmen, die für einen EU-Verbleib Großbritanniens gestimmt haben

Der SGI-Bericht weist außerdem darauf hin, dass die Regierung "mehr Rücksicht auf jene 48 Prozent der Wähler nehmen muss, die in der EU verbleiben wollen". Bis jetzt lassen sich jedoch kaum Zugeständnisse an diese große Minderheit erkennen. Vielmehr haben die scheidende Regierung und besonders Theresa May das Ergebnis des britischen Volksentscheids als Aufforderung interpretiert, die Freizügigkeit von EU-Bürgern in Großbritannien einzuschränken. Damit kehrt man von der Offenheit ab, die der SGI-Länderbericht für Großbritannien feststellt und die durch die Bereitschaft zur Aufnahme gekennzeichnet ist. Außerdem hält die Regierung hartnäckig daran fest, dass das Vereinigte Königreich die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes verlassen müsse. Die logische Konsequenz daraus und deshalb zentraler Punkt der britischen Verhandlungsgrundlage ist, dass Großbritannien dann auch nicht im EU-Binnenmarkt bleiben kann.

Scottish National Party im Aufwind, Konservative könnten viele UKIP-Wähler zurückgewinnen

Abgesehen von dem vordergründigen Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen gibt es keine Anzeichen dafür, dass bei den Wahlen die britische EU-Mitgliedschaft erneut zur Debatte steht. Die beiden großen Parteien haben größtenteils akzeptiert, dass es zum Brexit kommen wird, während die Ausgangslage der traditionell drittgrößten Partei, der Liberaldemokraten, so schlecht ist (im letzten Parlament erhielten sie nur neun von 650 Sitzen), dass es einem politischen Erdbeben gleich käme, wenn sie nach den Wahlen mehr als eine wichtige Stimme wären. Die halbherzigen Versuche, sich als pro-europäische Partei zu präsentieren, scheinen sich bisher nicht auszuzahlen und auch die Kommunalwahlen Anfang Mai gaben wenig Anlass, die Erfolgsaussichten der Partei bedeutend aufzuwerten.

Stattdessen muss davon ausgegangen werden, dass die Scottish National Party (SNP) als einzige substanzielle Fraktion pro-europäischer Parlamentsmitglieder von den Wahlen profitieren wird. Die UK Independence Party (UKIP) scheint, nachdem sie ihr maßgebliches Ziel, den Brexit, erreicht hat, weiter in einer Abwärtsspirale gefangen. Es ist zu erwarten, dass ein Großteil ihrer Wählerschaft die Konservativen unterstützen wird.

Bei den vorgezogenen Wahlen geht es nicht ausschließlich um den Brexit

Es wäre falsch, die Wahlen ausschließlich oder hauptsächlich als Abstimmung über die Beziehungen zur EU zu sehen. Der National Health Service (NHS), das nationale Gesundheitssystem, ist in der britischen Innenpolitik immer ein herausragendes Thema – selbst beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum 2014 und beim EU-Referendum spielte es eine prominente Rolle. Boris Johnson tourte letztes Jahr in einem roten Bus durchs Land, auf dem das (irreführende) Versprechen prangte, dass die 350 Millionen Pfund, die der EU-Austritt wöchentlich einspare, dem NHS zugutekommen sollten. Der SGI-Länderbericht stellt fest, dass Großbritannien allgemein über ein hochqualitatives und kostenintensives Gesundheitswesen verfügt, das darunter leidet, das Gesundheitswesen und Pflegedienstleistungen mangelhaft vernetzt sind sowie darunter, dass die zur Verfügung stehenden Mittel den Bedarf nicht abdecken können.

Auch wenn die Wahl über die Art des EU-Ausstiegs der Briten entscheidet, geht es in den Kampagnen um eine Mischung aus Bildungspolitik, NHS, Steuerpolitik sowie die Führungsqualitäten von Theresa May und Jeremy Corbyn, dem Vorsitzenden der Labour Party - und einzigen ernstzunehmenden Rivalen um das Amt des Premierministers. Corbyn gilt vielen jedoch als schwacher, unentschlossener und rebellischer Politiker, so dass Theresa Mays Position ungewöhnlich stark ist.

Umstrittene "Scheidungsrechnung": Was soll der Brexit die Briten kosten?

Allgemein wird erwartet, dass die Konservativen gestärkt aus der Wahl hervorgehen. Nur die Höhe des Machtzuwachses ist noch politisch umstritten. Das führt zu der Frage, wie sich ein deutliches Wählermandat auf die Brexit-Verhandlungen auswirken wird. Schon jetzt tauchen überall kritische Themen auf. Am meisten umstritten ist das, was gemeinhin die "Scheidungsrechnung" genannt wird: Einige Stimmen auf EU-Seite fordern von Großbritannien bis zu 100 Milliarden Pfund für seine eingegangenen Verpflichtungen, während Unverbesserliche im Land immer noch "keinen einzigen Penny" zahlen wollen.

Optimisten bauen darauf, dass ein deutliches Mandat Theresa May die Autorität verleihen wird, eine Einigung nach ihrem Wunsch voranzutreiben und die erforderlichen Kompromisse zu schließen, ohne unter Beschuss durch das extreme Lager ihrer eigenen Partei zu geraten. Zum Beispiel könnte sie einen finanziellen Ausgleich mit der EU durchsetzen und den politischen Schaden, den sie dadurch erleidet, dennoch in Grenzen halten. Ein anderer Vorteil ist, dass ein neues Wählermandat bis zum Jahr 2022 gilt und sich damit der Druck verringert, schnell vor den drohenden nächsten Parlamentswahlen zu einem Abschluss kommen zu müssen: 2020 wäre ziemlich knapp bemessen gewesen, doch bis 2022 sollte das möglich sein.

Im Gegensatz dazu befürchten Pessimisten, May könnte sich durch ein gutes Ergebnis ermutigt fühlen, einen noch härteren Brexit zu verfolgen und sogar mit dem Abbruch der Verhandlungen drohen, falls die heikleren Themen sich nicht einvernehmlich lösen lassen. Wenn die Pessimisten Recht behalten, könnte aus Härte Feindschaft erwachsen – mit fatalen Folgen für beide Seiten. Hoffen wir, dass die Optimisten richtig liegen.