Der designierte US-Präsident Joe Biden hält 2019 im Wahlkampf im Bundesstaat Iowa eine Rede vor einer riesigen an der Wand hängenden US-Flagge.

Scherben aufsammeln: Amerika nach der Wahl

Mit den meisten Stimmen in der Geschichte ist Joe Biden zum US-Präsidenten gewählt worden. Biden steht vor vielen schwierigen Aufgaben, insbesondere muss er die Kluft zwischen seinen Anhänger:innen und denen von Donald Trump, der seine Niederlage bislang nicht akzeptieren will, überbrücken. Anthony Silberfeld von der Bertelsmann Foundation in Washington, DC liefert einen Ausblick auf die kommenden Wochen und die Präsidentschaft Bidens.

Am 7. November stand fest, dass Joseph R. Biden zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt ist. Das Ende der Trump-Ära war von Hupkonzerten in der Hauptstadt Washington und improvisierten Tanzpartys, die sich von Philadelphia über New York bis nach Atlanta und darüber hinaus ausbreiteten, geprägt. Es wirkte geradezu poetisch, dass es ausgerechnet Bidens Heimatstaat Pennsylvania war, der Biden über die magische Schwelle von 270 Wahlleute-Stimmen half und damit den Tagen der Spannung und Unsicherheit nach der Wahl ein Ende setzte.

Auch wenn die endgültigen Ergebnisse noch nicht vorliegen, stehen einige Dinge bereits fest. Erstens wird Biden diese Wahl mit der höchsten Stimmenzahl in der amerikanischen Geschichte gewinnen. Zweitens haben mehr als 70 Millionen Amerikaner:innen ihre Unterstützung für Präsident Trump zum Ausdruck gebracht und damit den Trumpismus zu einem festen Bestandteil unserer politischen Landschaft gemacht. Drittens wird die Überbrückung der Kluft zwischen diesen beiden Lagern eine schwierige, aber auch die dringendste Herausforderung für den neuen Präsidenten sein.

Während die Demokraten bei der Präsidentschaftswahl Erfolge verzeichnen konnten, blieben sie bei den weniger hochrangigen Posten, die ebenfalls zur Wahl standen, hinter den Erwartungen zurück. So behielten sie zwar die Mehrheit im Repräsentantenhaus, verloren jedoch wichtige Sitze und verpassten die Chance, weitere Mehrheiten in den Parlamenten der Bundesstaaten zu erobern, was ihnen ermöglicht hätte, während des nächsten Jahrzehnts über die Wahlkreiseinteilung in diesen Bundesstaaten zu bestimmen. Der Wettlauf um die Mehrheit im US-Senat hängt von den Ergebnissen zweier Stichwahlen in Georgia ab, die am 5. Januar 2021 stattfinden werden. Mit der Präsidentschaftswahl im Hinterkopf werden die politischen Akteure, Präsidentschaftsanwärter:innen für das Jahr 2024 und Geldgeber:innen ihre Aufmerksamkeit auf den Peach State lenken, wo sich endgültig entscheiden wird, ob Washington ausschließlich von Demokraten regiert wird oder Demokraten und Republikaner die Macht unter sich aufteilen müssen.

Doch nicht jeder in den USA hat so schnell mit dem Wahlergebnis abgeschlossen. Präsident Trump und seine Anhänger:innen auf dem Capitol Hill, in den Medien und in der Bevölkerung weigern sich, das Wahlergebnis anzuerkennen und beharren darauf, dass es weit verbreiteten Wahlbetrug gegeben habe – ohne sich jedoch auf Beweise zu stützen. Seit dem Wahltag haben Trumps Rechtsanwälte ihr Anliegen zehnmal vor Gericht gebracht und jedes Mal verloren. Dennoch weigert sich der amtierende Präsident, seine Niederlage einzugestehen, und ist Berichten zufolge bereit, seine Anhänger:innen im ganzen Land zu mobilisieren, um bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Amtsübergabe unterbrochen

Dass Präsident Trump das Wahlergebnis nicht akzeptiert, ist auf mehreren Ebenen problematisch. Im Presidential Transition Act von 1963 heißt es eindeutig: "Jede Störung, die während der Übertragung der Exekutivgewalt verursacht wird, könnte zu Ergebnissen führen, die der Sicherheit und dem Wohlergehen der Vereinigten Staaten und ihrer Bevölkerung abträglich sind." Nicht nur ist eine friedliche Amtsübergabe der richtige Schritt, das Aussetzen dieses Prozesses ist auch mit ernsthaften Risiken für die nationale Sicherheit verbunden.

Bei den Wahlen im Jahr 2000 beispielsweise entschied der Oberste Gerichtshof der USA die Wahl mehr als einen Monat nach dem Wahltag und ließ damit nicht genügend Zeit, eine ordnungsgemäße Amtsübergabe an den designierten Präsidenten Bush zu gewährleisten, oder die Regierungsbehörden angemessen mit Personal auszustatten. Dies führte zu einem Mangel an Koordination, der Amerikas Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 behinderte. Eine der Empfehlungen im Untersuchungsbericht der 9/11-Kommission des US-Kongresses wies darauf hin, dass eine rechtzeitige und nahtlose Übergabe der Regierungsgeschäfte notwendig ist, um Kontinuität zu gewährleisten und potenzielle Schwachstellen zu verringern.

Präsident Trump hat diese Warnungen ignoriert und sogar administrative Maßnahmen ergriffen, um die Amtsübergabe zu stoppen, indem er die General Services Administration der US-Regierung daran hinderte, die Finanzmittel und Büroräume zur Verfügung zu stellen, die dem designierten Präsidenten normalerweise bereitgestellt werden. Außerdem hat er angedeutet, diese Mittel erst dann zur Verfügung zu stellen, wenn sein Wahlkampfteam alle rechtlichen Möglichkeiten bei der Anfechtung des Wahlergebnisses erschöpft hat.

Die Auswirkungen dieses Verhaltens machen sich auch in der Bevölkerung bemerkbar. Trumps mangelnde Bereitschaft, seine Niederlage einzugestehen, vertieft die Spaltung der Nation, die das Markenzeichen seiner Amtszeit war, und erschwert den Heilungsprozess, der nach einer umstrittenen Wahl immer erforderlich ist. Seine Anhänger:innen drängen ihn zum Weiterkämpfen und rechte Medien versichern, dass diese Bemühungen zu Trumps Sieg führen werden.

Unterdessen entwickelt die Situation allmählich eine Eigendynamik. Einige führende republikanische Politiker:innen, Medien und konservative Gruppen haben Bidens Sieg anerkannt und Staatsoberhäupter auf der ganzen Welt scheinen nach dem Kapitel der Trump-Regierung schnell ein neues aufschlagen zu wollen. Biden seinerseits hat sich in dieser heiklen Phase versöhnlich und besonnen gezeigt, indem er all jenen, die für oder gegen ihn gestimmt haben, gleichermaßen entgegengekommen ist. Auch wenn es einige Zeit dauern wird, bis alle Parteien das Unvermeidliche akzeptiert haben, wird Biden am 20. Januar 2021 als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden. Was können wir also vom neuen Präsidenten erwarten?

Stärke im Inland führt zu Stärke im Ausland

Präsident Biden wird die Zügel in einem Land mit tiefen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rissen, das auch nach Hautfarbe und Religion gespalten ist, übernehmen. Daher wird seine oberste Priorität darin bestehen, das schwer angeschlagene Land wiederaufzubauen. Biden ist im Kern Pragmatiker und weiß, dass die einzige Möglichkeit der Vereinigten Staaten, im Ausland Stärke zu zeigen, darin besteht, die Position im eigenen Land zu stärken.

Der Aufstieg Chinas bietet den USA die Gelegenheit, beides gleichzeitig anzugehen. Einer der wenigen Punkte, in denen sich Republikaner und Demokraten derzeit einig sind, ist die Notwendigkeit, mit China auf Konfrontationskurs zu gehen, um Amerikas Position als Weltmacht zu sichern. Eröffnen sich dadurch Möglichkeiten, zu überparteilichen Beschlüssen für Infrastrukturausgaben und Investitionen in einheimische Technologie und zu mehr Zusammenhalt in der Handelspolitik zu kommen? Wenn es Biden gelingt, die vergiftete Atmosphäre zwischen den Parteien teilweise zu neutralisieren, könnte er in beiden politischen Lagern Mitstreiter für diese Vorhaben finden.

Es wird natürlich auch ein Interesse daran bestehen, einige der schädlicheren politischen Entscheidungen der Trump-Regierung rückgängig zu machen. Eine Rückkehr der USA zum Pariser Klimaabkommen, eine direkte Zusammenarbeit mit der WHO in der COVID-19-Krise und der Schutz von Einwanderern in den USA werden unverzüglich in Angriff genommen. Bei Themen wie dem Atomabkommen mit dem Iran und dem Handelsstreit mit China könnten die USA jedoch eine abwartende Haltung einnehmen. In beiden Fällen wird die Biden-Regierung Verhaltensänderungen erwarten, bevor sie die Strafmaßnahmen ihrer Vorgängerin aufheben wird.

An der transatlantischen Front steht kaum in Frage, dass Biden sowohl hinsichtlich Stil als auch Inhalt die Partnerschaft aufwerten wird. Allerdings wird in einigen europäischen Kreisen erwartet, dass die USA zunächst das Vertrauen zurückgewinnen müssen, das die Trump-Regierung verspielt hat, indem sie regelmäßig den Wert der NATO und der Europäischen Union in Frage gestellt hat. Biden, so scheint es, erkennt diese Herausforderung und ist bereit, sie anzugehen.

Der Anfang vom Ende ... oder das Ende vom Anfang

US-Wahlen sind immer langwierig und hart umkämpft, doch diese hier war besonders unübersichtlich. Lag es an den unterschiedlichen Charakteren und Temperamenten der beiden Präsidentschaftskandidaten, den enorm unterschiedlichen Nachrichtenblasen oder daran, dass wir alle während der globalen Pandemie eingesperrt waren? Wer kann das schon mit Sicherheit sagen? Die letzten Monate sind nur so vorübergerauscht und wirkten dennoch gleichzeitig unendlich lang, weswegen es verzeihlich ist, sollte man den Überblick verloren haben. Bald jedoch wird sich der durch die Wahl 2020 aufgewirbelte Staub legen, so dass wir alle einmal tief durchatmen können, bevor wir uns mit den bereits begonnenen Wahlkämpfen für die Zwischenwahlen (Midterm Elections) im Jahr 2022 auseinandersetzen.