Wir haben Daniela Schwarzer, Christian Mölling und Malte Zabel gefragt, was sie derzeit mit Blick auf Europa und unsere Arbeit im Europaprogramm beschäftigt:
Blick auf Europa mit neuem Führungstrio
Die Bertelsmann Stiftung begrüßt in dieser Woche mit Christian Mölling und Lucas Guttenberg zwei ausgewiesene Europa-Experten. Christian Mölling ist nun neuer Director im Programm „Europas Zukunft“. Gemeinsam mit der zuständigen Vorständin Daniela Schwarzer und dem Co-Director Malte Zabel verantwortet er die strategische Ausrichtung und die inhaltliche Weiterentwicklung der Europa-Arbeit der Bertelsmann Stiftung. Mit seiner Erfahrung vor allem auf dem Gebiet der europäischen Sicherheitspolitik wird Christian Mölling gemeinsam mit dem Team neue Antworten auf die veränderte Sicherheitslage und die Angriffe auf die politische Einheit des Kontinents finden. Lucas Guttenberg wird die Arbeit zu den wirtschaftspolitischen Themen des Europa-Programms als Senior Advisor weiterentwickeln.
Inhalt
Was sind die drängendsten Themen für Europa für den Rest des Jahres aus Ihrer Sicht?
Daniela Schwarzer: Im dritten Quartal übernimmt voraussichtlich die neue Europäische Kommission ihr Amt und wird sehr schnell Prioritäten setzen. Ein sehr wichtiges Thema ist Europas Sicherheitsordnung, die eigene Verteidigungsfähigkeit und die Unterstützung der Ukraine gegenüber Russland. In Europa sind wir angesichts der russischen Bedrohung, die weit über die Ukraine hinausgeht, noch lange nicht so aufgestellt, wie wir es in der neuen Sicherheitslage sein sollten. Konfliktmuster haben sich verändert und hybride Attacken aus Russland, China und dem Iran, die auf unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt gerichtet sind, stellen ein weitreichendes Risiko dar. Die Unsicherheit über einen möglichen Teil-Rückzug der USA als Sicherheitsgarant im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump im November verdeutlicht das einmal mehr. Die neue Europäische Kommission wird sich dieser Themen gemeinsam mit den Mitgliedstaaten annehmen müssen und darf dabei neben der Verteidigungsfähigkeit im militärischen Sinne auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Resilienz nicht vernachlässigen. Klar ist auch: Die Europäische Union muss sehr stark an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, vor allem auch im Technologie- und Digitalisierungsbereich.
Malte Zabel: Über allem steht die amerikanische Präsidentschaftswahl am 5. November. Ein Wahlsieg Trumps hätte für die EU schwerwiegende Folgen. Aber auch wenn Kamala Harris gewinnen sollte, muss Europa sich darauf einstellen, viel mehr für die eigene Sicherheit tun zu müssen – einschließlich der Verteidigung der Ukraine. Deswegen ist es gut, dass die EU das Thema Sicherheit auf ihrer strategischen Agenda für die nächsten fünf Jahre weit nach oben gesetzt hat. In den nächsten Wochen muss sich Europa allerdings zunächst personell neu aufstellen. Das neu zusammengesetzte Europaparlament nimmt seine Arbeit auf, eine neue EU-Kommission kommt ins Amt, ein neuer Präsident des Europäischen Rates und eine neue Außenbeauftrage treten ihre Jobs an. Je schneller sie in ihren Rollen zusammenfinden, desto besser für Europas Handlungsfähigkeit.
Christian Mölling: Kurzfristig droht zum Ende des Jahres die US-Unterstützung im Rahmen der bisherigen Hilfspakete für die Ukraine zu enden. Dann kommt es auf die Europäer an. Diesen Teil unserer Sicherheit können wir beeinflussen. Den Ausgang der US-Wahlen nicht. Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt unserer Problemlandschaft: Europa befindet sich derzeit in der wahrscheinlich kritischsten Phase der vergangenen siebzig Jahre. Von Krieg bis Klimakrise gibt es eine Reihe existenzieller Herausforderungen.
Wie ist das Programm „Europas Zukunft“ nun aufgestellt?
Daniela Schwarzer: Ich freue mich sehr, dass wir nun gemeinsam das Europaprogramm mit Blick auf die verschärften Herausforderungen für die EU, ihre Mitgliedstaaten und die europäische Nachbarschaft weiterentwickeln können. Christian Mölling und Lucas Guttenberg sind Vordenker in ihren jeweiligen Themenfeldern und bringen wichtige Erfahrungen mit, die für uns als Team sehr bereichernd sein werden. Gemeinsam wollen wir auf die bisherigen Erfolge des Teams aufbauen und unsere Schwerpunkte erweitern. Dazu zählt beispielsweise ein verstärkter Fokus auf die Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, aber auch Sicherheitsbedrohungen und die zukünftige Ausgestaltung des europäischen Wirtschaftsmodells.
Christian Mölling: Ich trete hier bei der Bertelsmann Stiftung an, um meinen Verantwortungsbereich Europa nachzuschärfen, das Thema Sicherheit soll eine größere Rolle spielen. Aber Inhalte sind nur ein Teil der Aufgabe: Zur strategischen Aufstellung gehört auch, die guten Arbeitsergebnisse aller Kolleginnen und Kollegen so in Entscheidungsprozesse einzuspielen, um einen relevanten Beitrag dafür zu leisten, die EU handlungsfähiger zu machen. Dafür müssen wir immer wieder über die richtigen Formate und die richtigen Zeitfenster für unsere Aktivitäten finden. Relevanz kommt heute auch durch die Geschwindigkeit, mit der Qualität ausgespielt wird.
Malte Zabel: Wir gewinnen mit Christian einen absoluten Sicherheitsexperten, einen versierten Strategen, einen erfahrenen Think Tanker und einen netten Kerl. Auf die Zusammenarbeit mit ihm freue ich mich auf persönlicher Ebene, vor allem aber wird sie uns inhaltlich einen Schub geben. Sicherheitsfragen haben wir uns zuletzt hauptsächlich unter geoökonomischen Gesichtspunkten angeschaut. Das bleibt wichtig, ist aber eben nur eine Dimension eines ganzheitlichen Sicherheitsbegriff. Auch auf die Zusammenarbeit mit Lucas Guttenberg freue ich mich sehr. Mit ihm werden wir uns mit den wesentlichen Wirtschaftsfragen dieser Legislaturperiode befassen: wie wird die EU wettbewerbsfähiger, grüner, digitaler, inklusiver?
Unser Jahresthema lautet „Demokratie stärken“ – wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Daniela Schwarzer: Wir beobachten, dass immer mehr Menschen in unserem Land ihre Stimme für Parteien abgeben, die autoritäre und xenophobische Positionen vertreten, mit Russland sympathisieren oder sogar kooperieren und die EU schwächen wollen. Viele begründen diese Entscheidung mit einem Gefühl des Abgehängt-Seins von der grünen und digitalen Transformation. Zunächst einmal geht es darum, die Motive für die Wahl radikaler Kräfte zu verstehen. Als Gesellschaft müssen wir unsere liberale Demokratie weiterentwickeln, um das Gefühl der Teilhabe und Gerechtigkeit, gerade in Transformationszeiten, zu stärken und die Kräfte, die in unseren Gesellschaften liegen, bestmöglich zu mobilisieren.
Malte Zabel: Wir haben bei der Europawahl weiteren Zulauf für rechtspopulistische Parteien gesehen. In sechs Mitgliedstaaten haben sie die Wahl gewonnen. In einigen EU-Ländern ist die politische und gesellschaftliche Polarisierung weit fortgeschritten ist. Das schwächt den europäischen Zusammenhalt, auf den die EU in den nächsten Jahren mehr denn je angewiesen sein wird. Noch dazu erleben wir in manchen Mitgliedstaaten, allen voran Ungarn, erhebliche Einschränkungen des Rechtsstaatsprinzip, welches für die EU fundamentale Bedeutung hat. Hier muss sich die EU in ihrer Governance weiterentwickeln, um solchen Entwicklungen künftig stärker entgegen wirken zu können.
Wenn Sie nicht in Deutschland wohnen würden: Was wäre das europäische Land Ihrer Wahl und warum?
Christian Mölling: Ich kann mich nicht entscheiden – aber das muss ich in der EU ja auch nicht. Tatsächlich würde ich am liebsten von Stadt zu Stadt pendeln. Auch wenn ich vom Land komme – ich liebe das Stadtleben.
Daniela Schwarzer: Das wäre in meinem Fall wohl Frankreich! In Paris habe ich bereits während meines Studiums einige Zeit verbracht, den Einstieg ins Berufsleben gemacht und insgesamt sieben Jahre auch mit Familie dort gelebt. Beruflich bin ich nach wie vor viel in Paris unterwegs und sehe den Einsatz für einen konstruktiven Dialog zwischen Deutschland und Frankreich in Europa als sehr große Aufgabe, die aufgrund wiederkehrender Missverständnisse, unterschiedlicher Kulturen etc. nie erledigt sein wird, aber sehr wichtig ist und viel Spaß macht.
Malte Zabel: Schwierig… Ich mag viele europäische Länder, aber besonders wohl fühlen meine Familie und ich uns in unserem Nachbarland Holland, dessen gemütliche Geographie und Architektur uns gut gefällt. Auch Schottland, das ja leider nicht mehr in der EU ist, könnte ich mir vorstellen.