Das Reichstagsgebäude in Berlin.

Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie: "Die strategische Reise hat gerade erst begonnen"

Gestern verabschiedete die Bundesregierung die erste Nationale Sicherheitsstrategie in der Geschichte der Bundesrepublik. Aus diesem aktuellen Anlass diskutierten renommierte internationale Expert:innen mit Staatsminister Tobias Lindner via Zoom über die Stärken und Schwächen der Strategie sowie die daraus folgenden Schritte. Als Gastgeber:innen der Veranstaltung brachten Daniela Schwarzer, Vorständin der Bertelsmann Stiftung, und Christian Mölling, stellvertretender Leiter des Forschungsinstituts der DGAP, ihre Standpunkte ein.

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Jochen Arntz
Vice President Media Relations

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Von Winston Churchill stammt die Empfehlung: "Wie schön die Strategie auch ist, von Zeit zu Zeit sollte man sich ihre Resultate ansehen." Ganz ähnlich klang der Tenor der Zoom-Diskussionsrunde am gestrigen Abend, die sich mit der nur wenige Stunden zuvor präsentierten ersten Nationalen Sicherheitsstrategie in der Geschichte der Bundesrepublik auseinandersetzte. Auf Einladung der Bertelsmann Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) teilten renommierte Persönlichkeiten der Außen- und Sicherheitspolitik aus verschiedenen Ländern ihre Gedanken zu diesem Grundsatzdokument der Bundesregierung. Ihre Quintessenz: Die Strategie ist ein großer und richtiger Schritt für Deutschland – aber es kommt jetzt darauf an, Worten Taten folgen zu lassen. Oder, wie der Titel der Zoom-Diskussion bereits fragte: "Germany's first National Security Strategy – what is next?".

Tobias Lindner, Staatsminister im Auswärtigen Amt, erläuterte einleitend die Grundzüge der Nationalen Sicherheitsstrategie. Sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, der innere wie äußere Bedrohungen für die Sicherheit des Landes gebündelt betrachtet. Aspekte klassischer Verteidigungspolitik finden sich ebenso darin wie die Widerstandskraft der deutschen Demokratie gegenüber Desinformation und Populismus, die Rohstoffversorgung, der Schutz kritischer Infrastruktur (z.B. Energie, Kommunikation), Finanzstabilität, Cybersicherheit, Klimaschutz und Biodiversität sowie globale Gesundheitskrisen.

"Wir wollen Antworten auf eine neue Welt geben"

"Wir wollen Antworten auf eine neue Welt geben. Von der Notwendigkeit der ganzheitlichen Betrachtung waren wir schon vor dem Ukraine-Krieg überzeugt", betonte Lindner. Neben den Bedrohungen durch die russische Aggression spielt auch das Verhältnis zu China eine Rolle. Wobei Lindner darauf verwies, dass konkretere Positionen von der angekündigten China-Strategie zu erwarten seien. "Robustheit, Resilienz und Nachhaltigkeit" – auf diesen drei Säulen fuße die Strategie, erläuterte der Staatsminister. Die Verankerung in der kollektiven Sicherheitspolitik von EU, UN und NATO bleibe für Deutschland die Basis, zugleich wolle man jedoch nach neuen Partnern in der Welt suchen.

Die Vertreter:innen der Alliierten USA, Frankreich und Polen in der Runde waren sich in ihrem grundlegenden Urteil weitgehend einig. "Das Warten auf diese Strategie hat sich gelohnt", sagte der Franzose Camille Grand, Distinguished Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der Nato. Einerseits sei sie konsistent zur bisherigen deutschen Außenpolitik. Andererseits "ist Deutschland jetzt gewillter, die eigenen nationalen Interessen zu artikulieren. Das ist ein großer Schritt vorwärts." Die Strategie zeichne sich durch "Klarheit und einen optimistischen Grundton" aus, befand Heather Conley, Präsidentin des German Marshall Fund in den USA. Zudem lobte sie das Bekenntnis zur EU-Erweiterung. "Das Papier unterstreicht die Ambitionen Deutschlands, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen, was gut ist", konstatierte Slawomir Debski, Direktor des Polish Institute for International Affairs (PISM), der kritisch anmerkte, dass Polen nicht erwähnt sei.

Konkretere Aussagen zum Umgang mit China gewünscht

Doch die drei Diskutant:innen machten auch deutlich, in welchen Punkten das Papier hinter ihren jeweiligen Erwartungen zurückbleibt. "Die Strategie ist eher eine Momentaufnahme und blickt nicht weit genug in die Zukunft. Besonders den Umgang mit China werden die USA genau verfolgen", betonte Heather Conley. Auch Camille Grand vermisste konkretere Aussagen zu China, ebenso wie zu der deutschen Exportpolitik. Darüber hinaus äußerte er Zweifel an dem Bekenntnis der Bundesregierung, die Militärausgaben dauerhaft auf das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu heben. Auch Slawomir Debski zeigte sich gespannt, "ob den Ankündigungen Taten folgen und das Verteidigungsbudget erhöht wird". Zudem äußerte Debski Enttäuschung darüber, dass die Bundesregierung keine Aussagen zum Verhältnis zu den Partnerländern an der Nato-Ostflanke trifft. Allerdings schätze er "die klare Sprache hinsichtlich der Bedrohung durch Russland".

 

Auch die Gastgeber:innen der Zoom-Diskussion nahmen eine sehr differenzierte Beurteilung vor. Daniela Schwarzer, Vorständin unserer Stiftung, lobte die gerade im Vergleich zu Sicherheitsstrategien anderer Länder umfassende Abbildung von Gefahrenfaktoren im Inland bzw. für unsere Gesellschaft. "Das ist eine ganzheitliche Sicht auf die Herausforderungen, denen sich Deutschland gegenübersieht", so Schwarzer. Für die Umsetzung müsse die Bundesregierung allerdings viele Ressorts koordinieren und sich auf mehreren Politikfeldern eng mit den Regierungen der Bundesländer abstimmen, was keine leichte Aufgabe werde. Insgesamt begrüßte sie die ambitioniertere Rolle, die Deutschland nach der "Zeitenwende"-Rede auf internationalem Parkett anstrebt. Doch auch ihre Einschätzungen deuteten an, dass der Umgang mit China zum Lackmustest für die Strategie werden könnte. "Auf dem Papier wird China nun mehr als Wettbewerber und Rivale und weniger als Partner gesehen. Wie sich das auf einzelne politische Entscheidungen auswirkt, bleibt abzuwarten", sagte Schwarzer.

Bedeutende Rolle des Klimaschutzes für mehr Sicherheit

Die Bundesregierung habe eine "evolutionäre Strategie in einem revolutionären Moment der Weltgeschichte" vorgelegt, so die Bewertung von Christian Mölling, stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der DGAP und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung der DGAP. Viel werde davon abhängen, ob es gelinge, die verschiedenen Instrumente zur Prävention und zur Abwehr effektiv zu verzahnen – vor allem, wenn es um die Auswirkungen externer Einflüsse auf innere Angelegenheiten geht. Das aus seiner Sicht größte Manko des Papiers: "Die Strategie nennt viele Herausforderungen, aber kaum politische Prioritäten." DGAP-Direktor Guntram Wolff wies in seinem Fazit auf die große Bedeutung hin, die das Dokument dem Klimawandel für Fragen der nationalen wie internationalen Sicherheit beimisst. "Das Wort ‚Klima‘ taucht 70-mal in der Strategie auf, ‚Russland‘ dagegen nur 20-mal. Gerade für die junge Generation ist Klimaschutz der beste Schutz vor Bedrohungen."

 

Genau die werden sich – nicht zuletzt aufgrund der begrenzten Finanzmittel – im politischen Tagesgeschäft nun zeigen müssen, so der Konsens. „Die Arbeit fängt dort an, wo die Strategie aufhört“, betonte Daniela Schwarzer. "Der Prozess startet erst jetzt so richtig“, mahnte auch Slawomir Debski an. „Solche Papiere sind niemals fertig", verdeutlichte Heather Conley. "Die strategische Reise für Deutschland hat gerade erst begonnen."