Europäischen Union weht im Wind und der Himmel ist blau.

Zum Europatag: Die EU als Notwendigkeit und Aufgabe

Vor 73 Jahren stellte der damalige französische Außenminister Robert Schuman seine Idee für eine neue Form der politischen Zusammenarbeit in Europa vor: die Schuman-Erklärung, Wegbereiterin der späteren Montanunion. Sie sollte einen Krieg zwischen den Staaten Europas undenkbar machen.

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Dr. Malte Tim Zabel
Co-Director

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Dies ist gelungen. Zumindest innerhalb der 27 EU-Mitgliedstaaten ist ein Krieg heute tatsächlich nicht mehr vorstellbar. Diese historische Leistung ist angesichts der kriegerischen Vergangenheit unseres Kontinents kaum hoch genug einzuschätzen. Mehr als ein Jahr nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird sie uns in besonderem Maße vor Augen geführt. Während das Narrativ von der EU als Friedensgarant, das seit vielen Jahren von Europa-Befürworter:innen bemüht wird, fast schon als alter Hut galt, der nicht mehr recht "ziehen" wollte, ist es heute gewichtiger denn je.

Aus unseren eupinions-Umfragen wissen wir, dass 49 Prozent der Europäer:innen Friedenssicherung für die derzeit wichtigste Aufgabe der EU halten. Damit rangiert sie heute auf Platz 1 der Prioritätenliste der europäischen Bürger:innen. Vor Kriegsausbruch lag dieser Wert noch bei 35 Prozent (Platz 4). Einer der zentralen Gründungsimpulse, nämlich das "Nie wieder", ist mehr als 70 Jahre nach der Schuman-Erklärung wieder dramatisch aktuell geworden.

Unersetzlich als Ausgangspunkt kollektiven Handelns

Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zeigt beispielhaft, warum die EU heute eine unerlässliche Notwendigkeit geworden ist – und zugleich eine permanente Gestaltungsaufgabe bleibt. Wie andere Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, etwa der Klimawandel, ist der Krieg zu groß, zu existenziell, zu komplex, als dass ein auf sich gestellter europäischer Nationalstaat auf ihn alleine hätte angemessen reagieren können. Während die NATO militärisch kollektive Sicherheit garantieren mag, war es die EU, die sich für die Europäer:innen als zentrales Organ der gemeinsamen Kriegsreaktion bewährte. In bemerkenswerter Geschwindigkeit und Geschlossenheit hat sie Finanzhilfen bereitgestellt, der Ukraine Kandidatenstatus gewährt, Geflüchtete aufgenommen, Waffen geliefert – stets mit Zustimmung der europäischen Bürger:innen. Energieunabhängigkeit von Russland kann die EU nur im Verbund herstellen, wenn sie sich nicht selbst schaden will.

Zwar mag die Hilfe für Kiew bei manchen Waffenlieferungen noch immer zu spät kommen und zu gering ausfallen. Auch zeigen sich gelegentlich Risse in der europäischen Geschlossenheit, wie Ungarns Ausscheren bei den Sanktionsbemühungen zeigt. Insgesamt aber hat die EU allen russischen Spaltungsbemühungen weitgehend widerstanden und ihren unschätzbaren Wert als Ausgangspunkt für kollektives Handelns unter Beweis gestellt. 

Zugleich legt der Krieg die Unvollkommenheit der Union und ihren immensen Handlungsbedarf offen. Der Angriff Russlands ist auch ein (besonders schlimmes) Symptom einer neuen multipolaren Weltordnung. China, das Russland zwar nicht mit Waffen, aber doch mit Geld unterstützt, verfolgt erkennbar das Ziel, seinen Einfluss auf die Geschicke der Welt deutlich auszuweiten und befindet sich infolgedessen in einem Konflikt mit den USA, jahrzehntelang die einzige echte Weltmacht.

Handlungsbedarfe in einer multipolaren Welt

Das zentrale Mittel, mit dem dieser Konflikt ausgetragen wird, ist Geoökonomie. Die Wirtschaftspolitik ist heute zu einem wesentlichen Instrument der Projektion von Macht geworden. Sie dient einerseits dazu, offensiv durch wirtschaftliche Verflechtung und  das Schaffen von Abhängigkeiten politischen Einfluss auf Dritte auszuüben. Andererseits ist die Industriepolitik der großen Blöcke darauf ausgerichtet, defensiv die eigenen Kapazitäten zu stärken, um die Anfälligkeit gegenüber eben jener offensiven Außenwirtschaftspolitik Dritter zu verringern. Dabei liegt der Fokus vor allem auf jenen Technologien, Rohstoffen und Produkten, die im Zuge der Transformation in Richtung Digitalisierung und Dekarbonisierung besonders kritisch sind – Chips, Halbleiter, Batteriezellen, Seltene Erden, Solarmodule, Infrastruktur, um nur einige Beispiele zu nennen.

China verfolgt diese Strategie seit einigen Jahren mit langfristiger Planung und großer Konsequenz. Mit dem Plan "Made in China 2025" verfolgt die Volksrepublik das Ziel, zur weltweit führenden Technologie- und Industrienation zu werden und den Anteil chinesischer Hersteller von "Kernkomponenten und wichtigen Werkstoffen" auf dem einheimischen Markt auf 70 Prozent zu erhöhen. Mit der „Belt and Road“-Initiative hat sich China bereits vor 10 Jahren aufgemacht, über Investitionen, Kredite, Rohstoffpartnerschaften, Handelsabkommen, vor allem aber Infrastrukturprojekte ein Netz der wirtschaftlichen Verflechtung über zahlreiche Drittstaaten zu spannen.

Die EU dagegen ist erst kürzlich aufgewacht und hat im geoökonomischen Wettbewerb, dem sie sich nicht entziehen kann, noch großen Handlungsbedarf. Jüngst auf den Weg gebrachte Initiativen und Instrumente wie der European Chips Act, mit dem Europa seine Resilienz auf dem kritischen Feld der Halbleitertechnologie stärken will, oder der Anti-Coercion-Mechanismus, mit dem sich die EU gegen wirtschaftliche Erpressungsversuche schützen will, weisen zwar in die richtige Richtung. Sie wurden aber spät auf den Weg gebracht, müssen sich in der Praxis noch bewähren und reichen in ihrer Gesamtheit noch nicht aus, um die EU in einem hinreichenden Maße zu einem handlungsfähigen Akteur zu machen, der die multipolare Welt nach seinen Werten und Interessen mitgestalten kann. Selbst in Regionen, wo die EU bereits der größte Wirtschaftsakteur ist, nämlich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, gelingt es ihr nur unzureichend, in beiderseitigem Interesse politisch Einfluss zu nehmen.

Auf Stärken und Potenzialen aufbauen

Dabei ist Europas Potenzial nach wie vor riesig. Auch wenn der europäische Anteil an der Weltwirtschaft schon seit einigen Jahren schwindet, verleiht der Binnenmarkt, welcher den europäischen Wohlstand pro Jahr Kopf um 840 Euro im Jahr mehrt, Europa beträchtliche Anziehungskraft sowie regulatorische Gestaltungsmacht. Ein gemeinsamer Markt mit 450 Millionen Verbraucher:innen kann Standards setzen, die weit über die Landesgrenzen Europas Bedeutung haben (der sogenannte "Brussels-Effect"). So schickt sich die EU über den geplanten AI Act etwa an, die erste globale Wirtschaftsmacht zu werden, die den Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz im Sinne ihre Bürger:innen reguliert. Hier und im Bereich des Klimaschutzes kann die EU globale Vorreiterin sein.

Dabei muss die Europäische Union darauf achten, dass ihr berechtigtes Streben nach Wettbewerbsfähigkeit nicht zulasten ihres inneren Zusammenhaltes geht. Wenn sich Innovation und nachhaltiges Produktivitätswachstum nur auf einige Spitzenregionen konzentrieren, verlieren andere den Anschluss. Dabei basieren Europas äußere Anziehungskraft und ihre "Softpower" ja gerade auf einem Modell, dass den Lebensstandard aller und nicht nur der Stärksten anheben will. Es basiert auf der einzigartigen Kombination einer demokratischen, regelbasierten Ordnung mit einer sozialen Marktwirtschaft. Auf diesen Stärken sollte die EU aufsatteln, um sich als die konstruktive, handlungsstarke oder auch "souveräne" Gestalterin der regelbasierten Ordnung zu behaupten, die sie sein kann.

73 Jahre nach der Vorstellung des Schuman-Plans ist die EU keineswegs perfekt. Sie wird wohl auch nie ganz "fertig" werden. Aber sie ist normativ noch immer "richtig" sowie wirtschaftlich und politisch unverzichtbar. Sie verdient es, in dem Maße weiterentwickelt und gestärkt zu werden, wie es so dringend nötig ist.