Reihe von Menschen, die über einen Platz läuft

Gefühlt ungerecht: Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland

Viele Menschen glauben, in Deutschland herrsche Ungerechtigkeit. Die Bereitschaft, selbst dazu beitragen, das zu ändern, ist jedoch gering.

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Dr. Kai Unzicker
Senior Project Manager

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Die Mehrheit der Deutschen hat das Gefühl, es gehe im Land nicht gerecht zu – weder bei der Verteilung von Gütern und Vermögen noch zwischen den Generationen. Das ist Anlass zur Sorge: Menschen, die mehr Ungerechtigkeit wahrnehmen, vertrauen Politik und Institutionen weniger und sind seltener zu Veränderungen bereit.

Nur 17 Prozent der Menschen glauben, es gebe Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland, 27 Prozent sagen, es gehe zwischen den Generationen gerecht zu. Etwas höher ist der Anteil derjenigen, die davon überzeugt sind, das eigene Vermögen (34 Prozent) und das eigene Einkommen (35 Prozent) seien gerecht. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen: Menschen mit höherem Einkommen und höherer formaler Bildung, Männer sowie Bildungsaufsteiger:innen empfinden die Gesellschaft als deutlich gerechter als Menschen mit niedrigerem Einkommen und Bildungsstand sowie Frauen.

Dies sind Ergebnisse unserer neuen Studie "Gerechtigkeitsempfinden in Deutschland", für die wir gemeinsam mit dem Münchner IFO-Institut Ende letzten Jahres 4.900 Personen ab 18 Jahre online befragt haben. Die Studie hat dabei die allgemeine Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft, das Gerechtigkeitsempfinden im Hinblick auf das eigene Einkommen und Vermögen sowie die unterschiedlichen Generationen betrachtet.

Das Gerechtigkeitsempfinden ist in Deutschland schon seit längerer Zeit eher schwach ausgeprägt, aber angesichts der schwierigen Wirtschaftslage, der hohen Inflation und des herausfordernden Transformationsprozesses, in dem wir aktuell stecken, kommt ihm eine entscheidende Bedeutung zu.

Dr. Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung

Menschen beklagen Ungerechtigkeit, sind jedoch wenig bereit zu Veränderungen

Für die Politik ist dieser Befund beunruhigend, korreliert doch das Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen mit der empfundenen Gerechtigkeit. Zudem sind Menschen, die das Gefühl haben, es gehe ungerecht zu, auch weniger bereit zu Veränderungen. Angesichts der aktuellen Herausforderungen ist Politik aber mehr denn je auf eine breite Legitimationsbasis angewiesen. Nimmt die gefühlte Ungerechtigkeit weiter zu, droht der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter zu schwinden.

Die Studie zeigt einerseits, dass der Wunsch nach einem Ausgleich groß ist. So sind 75 Prozent der Befragten für die Verringerung des Unterschieds zwischen Arm und Reich. Andererseits sind aber nur 37 Prozent bereit, dafür selbst höhere Steuern zu zahlen.

Ein ähnliches Paradoxon zeigt sich beim Blick auf die Wahrnehmung der Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Zwar geht mehr als die Hälfte der Befragten davon aus, dass die Jüngeren Wohlstandseinbußen im Vergleich zu ihren Eltern erfahren werden. Unterschiedliche Anpassungen im Rentensystem oder beim Wahlrecht zugunsten der jüngeren Generationen oder dem Verzicht auf neue Schulden werden aber jeweils von weniger als 20 Prozent der Befragten befürwortet. Eine Ausnahme bildet hier nur der Klimawandel: Ein stärkerer Einsatz für das Erreichen der Klimaziele findet mit 69 Prozent große Zustimmung.

Zum Wunsch nach einem Ausgleich zwischen Arm und Reich kommt das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit. Die Befragung zeigt, dass aktuell 62 Prozent davon ausgehen, dass Reichtum in Deutschland im Allgemeinen vom Glück beziehungsweise dem Elternhaus abhängt. Als gerecht und fair wird es dagegen erlebt, wenn Menschen in der Lage sind, ihr Leben selbst zu gestalten. Die Rolle des Staates wird eher darin gesehen, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Eine überwältigende Mehrheit der Befragten unterstützt dabei die beiden zentralen Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft: das Leistungsprinzip (85 Prozent), demzufolge es gerecht ist, wenn jene mehr erhalten, die mehr leisten, und das Bedarfsprinzip (95 Prozent), wonach Gerechtigkeit sich auch darin ausdrückt, wenn eine Gesellschaft sich um Schwache und Hilfsbedürftige kümmert.

Informationen zu Ungerechtigkeit lösen paradoxe Reaktionen aus

Allerdings gibt es bei der Herstellung von Gerechtigkeit durch den Staat Hürden in der politischen Kommunikation, auf die die Studie ebenfalls verweist. Im Rahmen eines Experiments erhielten einige Befragte Informationen zur Vermögens- und Altersverteilung in der Bevölkerung, um zu prüfen, ob sich durch dieses zusätzliche Wissen ihr Gerechtigkeitsempfinden verändert.

Es zeigte sich, dass die tatsächliche Ungleichverteilung des Vermögens und die Überrepräsentation Älterer in der Bevölkerung deutlich unterschätzt wurde. Nachdem die korrekten Informationen geliefert wurden, kam es jedoch zu einem überraschenden Ergebnis: Auf Befragte, die sich selbst politisch in der Mitte oder links verorten, haben die dargebotenen Fakten keinen Einfluss. Diejenigen jedoch, die sich politisch eher rechts einordnen, empfinden trotz des Wissens darum, dass die Verteilung in der Gesellschaft ungleicher ist als sie vorher angenommen haben, die sozialen Umstände gerechter als vergleichbare Befragte in der Kontrollgruppe.

Die Forscher vermuten, dass Informationen, die den eigenen Überzeugungen entgegenstehen, als unglaubwürdig wahrgenommen werden, vor allem wenn sie als politisch gefärbt wahrgenommen werden. Die Tatsache, dass die Bereitstellung von Informationen nicht zwangsläufig zu einer Haltungsänderung führt, sondern sogar paradoxe Effekte haben kann, hat Konsequenzen für die mediale und politische Kommunikation. In Zeiten, in denen es zu verhindern gilt, dass noch mehr Menschen sich von der Demokratie abwenden und eine Lösung für ihre Ungerechtigkeitserfahrungen im Nichtwählen oder der Wahl von Protestparteien sehen, muss damit sensibel umgegangen werden.