Nordrhein-Westfalen, das bevölkerungsreichste Land der Bundesrepublik und bis nach der Mitte des letzten Jahrhunderts das Kernland der deutschen Industrialisierung auf der Basis von Kohle und Stahl, scheint den sektoralen Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie vollzogen zu haben, wenn man den unterdurchschnittlichen Beschäftigtenanteil in Produktionsberufen von 24 % zum Maßstab nimmt. Aber dieser Schein trügt zumindest im Bereich der Berufsausbildung erheblich. Die Nachwehen der großen Industrievergangenheit des Landes wird man mit einer gewissen Berechtigung in den heutigen Schwierigkeiten mit der dualen Berufsausbildung annehmen dürfen. Zwar hat Nordrhein-Westfalen insgesamt und in allen Arbeitsagenturbezirken ein Unterangebot an Ausbildungsplätzen. Aber die Durchschnittsquote von 88 % in der Angebots-Nachfrage-Relation (ANR) verteilt sich extrem ungleich zwischen den alten Ruhrgebietsbezirken, in denen die ANR zwischen 79 % (Oberhausen) und 80 % bis 84 % liegen (Hagen, Gelsenkirchen, Hamm u. a.), und den Rhein-Agenturbezirken, in denen die ANR durchgängig merklich über 90 % liegt; von den alten Bezirken weist lediglich Essen eine vergleichbar hohe ANR auf.
Eine Verbesserung der Berufsausbildungssituation, zu der die Berufsbildungspolitik aufgerufen ist, erscheint ohne eine intensivere Arbeitsmarkt- und wirtschaftliche Strukturpolitik immer noch nicht möglich zu sein. Der Zusammenhang zwischen allgemeiner Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit und Unterangebot an Ausbildungsplätzen ist in den Arbeitsagenturbezirken unabweisbar.
Obwohl sich in der Relation der Neuzugänge zu den drei Berufsbildungssektoren in den letzten beiden Jahren wenig verändert hat und obwohl Nordrhein-Westfalen erhebliche Reformanstrengungen in der Reorganisation des Übergangssektors im gleichen Zeitraum unternommen hat – in Form der Auflösung uneffektiver berufsschulischer Angebote und deren Integration in ein neu konzipiertes Ausbildungsvorbereitungsjahr bzw. in die einjährige Berufsfachschule –, kann man die Situation in der Berufsausbildung nicht als befriedigend ansehen. Es sind vor allem zwei, zum Teil zusammenhängende Probleme, derer sich die Berufsbildungspolitik verstärkt annehmen muss.
Zum einen gelingt es trotz der Reformanstrengungen im Übergangssektor bislang (noch) nicht, das Ausbildungspotenzial zu erhöhen. In beiden vollqualifizierenden Ausbildungssystemen geht die absolute Zahl der Neuzugänge – auch aus demografischen Gründen – nicht unbeträchtlich zurück: im Schulberufssystem um 13 % (höher als in jedem anderen Bundesland), in der dualen Ausbildung um 5 %. Angesichts des zu erwartenden demografisch bedingten Rückgangs der Schulabgängerzahlen können die aktuellen Rückläufigkeiten der Neuzugänge schon kurzfristig zu Fachkräfteengpässen führen.
Zum anderen bleiben trotz einer respektablen Ausweitung der Neuzugangszahlen von Ausländern in den beiden vollqualifizierenden Ausbildungssystemen die Teilhabeunterschiede an vollqualifizierender Ausbildung zwischen Deutschen und Ausländern groß, differieren zudem stark nach Arbeitsagenturbezirken und treten auch bei gleichem Schulabschlussniveau auf. Man muss diese Ungleichheit vor dem Hintergrund sehen, dass Nordrhein-Westfalen zusammen mit Hessen und Baden-Württemberg mit 32 % den höchsten Anteil von Jugendlichen im besonders ausbildungsrelevanten Alter hat, um zu begreifen, welches Arbeitskräftepotenzial Gefahr läuft verspielt zu werden und welches Ausmaß an beruflicher Ungleichheit und wie viel verfehlte soziale Integration stabilisiert zu bleiben droht, wenn es nicht gelingt, die Ausbildungsungleichheiten zeitnah abzubauen.