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"Die Mehrheit wünscht sich einen echten Politikwechsel"

Das Wahljahr 2021 bleibt geprägt durch den Wunsch nach einem Politikwechsel in Deutschland. Was sind dabei für die Wähler:innen die Top-Themen? Und wie groß wird der Bundestag? Im Gespräch mit unserem Demokratiexperten Dr. Robert Vehrkamp analysieren wir die Lage vor der Bundestagswahl.

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Zu Beginn des Wahlkampfes, Ende April/Anfang Mai, zeigten sich die meisten Menschen in Deutschland in Wechsellaune. Wie sieht das jetzt aus? Verlässt die Wähler:innen der Wechselmut, je näher der Wahltag kommt?

Die Wechselstimmung vor der Bundestagswahl bleibt auf Rekordniveau, auch wenn wir im Juli eine leichte Abkühlung gesehen haben. Noch immer wünscht sich eine klare Mehrheit (54,8 Prozent) einen echten Wechsel. Das ist der vierthöchste von insgesamt 81 Werten, die dazu seit 1994 erhoben wurden. Die Menschen bleiben also in Wechselstimmung, auch wenn die fast euphorischen Werte von Ende April sich ein bisschen relativiert haben. Nur deutlich weniger als ein Fünftel (16,4 Prozent) meint, dass ein solcher Wechsel nicht gut wäre. Das ist der zweitniedrigste Wert seit Beginn der Erhebungen Anfang der 90er Jahre.

Gefragt wird aber nur danach, ob es gut wäre, „wenn die Bundesregierung in Berlin wechseln würde“. Ist das nicht nach jeder Wahl so? Zumal bei dieser Wahl ja die amtierende Bundeskanzlerin gar nicht wieder antritt?

Das ist richtig, und prägt ja auch den Wahlkampf. Zum ersten Mal tritt bei einer Bundestagswahl die amtierende Kanzlerin nicht wieder an. Aber hinter dem Wunsch nach einem Regierungswechsel steht in diesem Jahr vor allem der Wunsch nach einem echten Politikwechsel. Das zeigen unsere Zahlen zu den einzelnen Politikbereichen sehr deutlich. Die Menschen wünschen sich mehrheitlich einen Neustart in der Bildungspolitik, beim Umwelt- und Klimaschutz, und auch bei der Rente, der Wohnungspolitik und bei den Themen Migration und Flüchtlingspolitik. In allen Bereichen liegen die Wechselwünsche stabil und deutlich über 50 Prozent. Es geht also gar nicht in erster Linie darum, die amtierende Regierung abzuwählen, sondern einen Politikwechsel einzuleiten. Das ist für alle Parteien eine Chance: Wer den Wind des Wechsels hinter seine Segel bekommt, muss sich um sein Wahlergebnis im September keine Sorgen machen. Das galt zu Beginn des Wahlkampfes, und das gilt auch jetzt noch.

Aber noch einmal nachgefragt: Sind die Wähler:innen in Deutschland erfahrungsgemäß nicht eher wechselunwillig? Lieber „keine Experimente“ als zu viel Neues wagen?

Das stimmt zum Beispiel für die Bundestagswahl 2005. Da lag die Wechselstimmung auch kurzzeitig über 50 Prozent, ist dann aber bis zum Wahltag wieder gekippt. Das Ergebnis war dann die erste Große Koalition. Anders war es aber zum Beispiel bei der Bundestagswahl 1998. Da hatte sich die Wechselstimmung zwar in den Monaten vor der Wahl auch etwas abgekühlt, hat dann aber bis zum Wahltag gehalten, und zur Ablösung der schwarz-gelben durch eine rot-grüne Regierung geführt. Wie es diesmal kommt, ist natürlich noch offen. Vieles spricht aber eher für ein Szenario wie 1998. Die Pandemie hat uns viele Defizite aufgezeigt. Das hat eine Grundstimmung für mehr Wandel erzeugt, auch bei vielen Menschen, denen es eigentlich eher um Bewahren geht. Es muss sich vieles ändern, damit unser Leben so gut bleiben kann, wie es für viele war und noch ist. Das beschreibt es vielleicht ganz gut, und betrifft vor allem auch die viel beschworene Mitte der Gesellschaft, die sonst eher auf den Status-quo und Bewahren setzt. Die Parteien sollten das jedenfalls als eine freundliche Aufforderung zum Tanz begreifen, den noch etwas müden und thematisch profillosen Wahlkampf zu beleben und die vorhandene Wechselstimmung der Wähler:innen aufzunehmen statt einzuschläfern. Das ist für alle Parteien eine Chance, die sie nutzen sollten.

Eines der Top-Themen im Wahlkampf ist der Klimaschutz. Wie kontrovers sind da die Wechselwünsche? Meinen alle dasselbe, wenn sie sich eine andere Klimapolitik wünschen, oder ist das ähnlich umstritten wie beispielsweise die Flüchtlings- und Migrationspolitik?

Das haben wir uns auch gefragt, und deshalb nachgehakt: Wie sollte der Politikwechsel im Bereich Umwelt- und Klimaschutz aussehen? Wünschen sich die Menschen „mehr“, „weniger“ oder einfach nur eine „andere“ Klimapolitik? Gezeigt hat sich dabei, dass es einen sehr großen gesellschaftlichen Konsens für „mehr“ Klimaschutz gibt. Fast acht von zehn Menschen wünschen sich das, quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Parteien. Das „ob“ ist also beim Klimaschutz nicht mehr umstritten, sondern lediglich das „wie“. Das allein bietet natürlich noch immer genug Raum für Kontroverse und Streit über die richtigen Wege und Instrumente, nicht aber über die grundsätzliche Richtung. Ganz anders als in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, die auch im Grundsatz stark umstritten bleibt.

Und wie sieht es mit der Mobilisierung und Wahlbeteiligung aus? Sind die Wähler:innen derzeit noch eher wahlmüde oder bereits hellwach und schon auf dem Weg ins Wahllokal?

Oder auf dem Weg zum Briefkasten, der ja bei dieser Bundestagswahl sogar noch wichtiger werden könnte als die Wahllokale. Jedenfalls rechnen wir mit einem erneuten Rekord bei der Briefwahlbeteiligung, die auch die Mobilisierung der unterschiedlichen Wählermilieus prägt. Insgesamt zeichnet sich derzeit eine eher wieder etwas geringere Wahlbeteiligung ab, vor allem in den ohnehin wählerschwächeren Milieus. Das hat zum einen damit zu tun, dass die rechtspopulistische Mobilisierung von Nichtwähler:innen in diesen Milieus nicht noch einmal in dem Maße gelingen wird, wie es 2017 gelungen ist. Viele der damaligen Protestwähler:innen werden wieder in die Wahlverweigerung gehen, weil sie sich auch von den Rechtspopulisten nicht wirklich vertreten fühlen. Darüber hinaus gibt es auch einen „Corona-Effekt“. Pandemiebedingt werden viele Menschen per Brief wählen, vor allem in den bildungsstarken und politisch besonders interessierten Milieus. Gleichzeitig wirkt die Beantragungspflicht der Briefwahlunterlagen in den bildungsferneren Milieus als Hemmschwelle. Das verschärft die ohnehin schon sehr krasse soziale Spaltung der Wahlbeteiligung. Die Chance, das durch einen automatischen Versand der Briefwahlunterlagen an alle zu ändern, wurde leider verpasst. Man hätte hier von den Bayern lernen können, die das bei den Kommunalwahlen im März 2020 mit großem Erfolg so gemacht haben. Auch im Wahlrecht und bei der Wahlorganisation brauchen wir also ganz dringend einen Politikwechsel!

Apropos Wahlrecht und Wahlrechtsreform: Wir groß wird denn der Bundestag diesmal werden?

Eine genaue Prognose ist nicht möglich, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass es noch einmal deutlich mehr werden als die 709 des jetzigen Bundestages. Und der liegt ja schon um mehr als 100 Abgeordnete über seiner Regelgröße 598. Selbst ein Mega-Bundestag von bis zu 1.000 Abgeordneten ist nicht gänzlich auszuschließen. Die gescheiterte Wahlrechtsreform macht die Größe des Bundestages zu einem reinen Vabanquespiel. Es kann gut gehen. Es kann aber auch richtig schief gehen, und die Arbeits- und Politikfähigkeit des nächsten Bundestages schwer beschädigen. Es hängt zum einen vom Zweitstimmenergebnis ab, zum anderen aber auch vom Splittingverhalten, also der Frage wie viele Wähler:innen mit ihrer Erststimme anders wählen als mit ihrer Zweitstimme. Wer selbst rechnen möchte, kann das in unserem interaktiven #Mandaterechner und auf www.wie-gross-wird-der-bundestag.de begleiten wir das Thema bis zum Wahltag. Dann wissen wir mehr!