Belgien wagt ein demokratisches Experiment zur Verknüpfung repräsentativer und partizipativer Demokratie: In Deliberativen Parlamentsausschüssen erarbeiten Brüsseler Bürger:innen und Abgeordnete gemeinsam Empfehlungen, die anschließend weiterverfolgt und oft auch umgesetzt werden. Die Deliberativen Parlamentsausschüsse verringern die Distanz zwischen Bürger:innen und politischen Entscheider:innen und stärken die Demokratie.
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Neue Form der Deliberation:
Belgien als Vorreiter partizipativer Demokratie
In den letzten Jahren haben sich Bürgerräte in ganz Europa stark verbreitet. Eine Gruppe zufällig ausgewählter Bürger:innen erarbeitet konkrete Empfehlungen für die Politik. Dieses Grundkonzept eines Bürgerrates wurde in Brüssel weiterentwickelt. Die Brüsseler Regional- und Gemeinschaftsparlamente waren 2019 die ersten Parlamente, die ein neues Konzept der Bürgerräte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten. Dreimal im Jahr arbeiten 45 Bürger:innen und 15 Abgeordnete in deliberativen Parlamentsausschüssen gemeinsam an einem bestimmten Thema. Sie treffen sich an fünf oder mehr Wochenenden, debattieren und formulieren gemeinsame Empfehlungen, die dann sowohl von den Parlamentarier:innen als auch von der Brüsseler Regierung weiterverfolgt werden. Die Einbeziehung von Bürger:innen, die sich normalerweise nicht an politischen Debatten beteiligen, ist für diesen Prozess von grundlegender Bedeutung. „Deliberativer Parlamentsausschuss“ ist der Name dieser neuen Form der Zusammenarbeit von Parlamentarier:innen und Bürger:innen.
Dieses Modell weist folgende Stärken auf:
- Qualität: Politische Entscheidungen werden erheblich verbessert, wenn die Bürger:innen direkt in die Suche nach gemeinsamen Lösungen einbezogen werden.
- Inklusivität: Nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger:innen haben ein direktes Mitspracherecht im Entscheidungsprozess. Verschiedene Maßnahmen werden ergriffen, um die Gleichbehandlung der Teilnehmenden zu gewährleisten.
- Dauerhaftigkeit: Die deliberativen Ausschüsse sind ein fester Bestandteil der parlamentarischen Vorschriften, so dass eine ständige Bewertung und Anpassung des Prozesses gewährleistet wird.
- Verpflichtung zur Weiterverfolgung: Regierung und Parlament verpflichten sich, die vereinbarten Empfehlungen weiterzuverfolgen.
Erfahrungen mit 5 Deliberativen Parlamentsausschüssen
Themen
5 Deliberative Parlamentsausschüsse sind bereits durchgeführt worden:
- 5G-Einführung in Brüssel
- Obdachlosigkeit
- Bürgerbeteiligung in Krisenzeiten
- Biologische Vielfalt in der Stadt
- Berufsbegleitende Ausbildung
Aufwandsentschädigung
73,00 € / Tag pro Bürger:in
Inklusion
Tagesbetreuung für Kinder, so dass Eltern/Alleinerziehende teilnehmen können. Buddy-System, damit diejenigen, die weder Französisch noch Niederländisch sprechen, mit einer Begleitperson kommen können, die bei der Übersetzung hilft.
Umsetzung des Modells
3 von 8 Parlamenten haben bereits Deliberative Parlamentsausschüsse in ihre Regelungen aufgenommen:
- Das Parlament der Region Brüssel
- Das französischsprachige Parlament von Brüssel
- Das Parlament von Wallonien
Evaluation*
95% der Abgeordneten gaben an, dass die Bürger:innen zu den effektiven und konstruktiven Diskussionen beigetragen haben.
82% der teilgenommenen Bürger:innen haben das Gefühl, dass sie das politische System besser verstehen.
*Durchschnittswert der Evaluation von allen fünf Deliberativen Parlamentsausschüssen
Gründe für die Zusammenarbeit von Bürger:innen und Abgeordneten
Die Abgeordneten sind Expert:innen für die politische Arbeit und diejenigen, die die Empfehlungen letztendlich umsetzen. Ihre Mitarbeit in den „Deliberativen Ausschüssen“ ist daher von großem Vorteil. Die Deliberativen Parlamentsausschüsse sind der Beweis für einen großen Wandel: Abgeordnete und Bürger:innen arbeiten zusammen und suchen Gemeinsamkeiten. Die Bürger:innen bringen ihre Alltagserfahrungen, Perspektiven und ihr Wissen ein. Politiker:innen sind erfahrene politische Entscheidungsträger und Gesetzgeber. Sie kennen die Einschränkungen, die Fallstricke und die Sprache der Politikgestaltung; sie können die Bürger:innen durch den Gesetzgebungsprozess führen. Die Beobachtung des Prozesses hat gezeigt, dass es viele Vorteile bringt, wenn Bürger:innen und Politiker:innen zusammenarbeiten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Empfehlungen umgesetzt werden, hat sich definitiv erhöht. Die Abgeordneten, die bei den Beratungen dabei waren und für die Empfehlungen gestimmt haben, sind dieselben Politiker:innen, die auch die Folgemaßnahmen durchführen. Die Kluft zwischen den Bürger:innen und ihren Vertreter:innen schließt sich und trägt zur Vertrauensbildung bei. Diese Kombination stärkt das Vertrauen der Bürger:innen, die per demokratischer Lotterie ausgewählt wurden. Bürger:innen sind eher bereit, einer Einladung zur Teilnahme zu folgen, da sie davon ausgehen können, dass ihre Vorschläge mit großer Wahrscheinlichkeit umgesetzt werden. Oft werden Politiker:innen zu leidenschaftlichen Verfechter:innen der Innovationen und tragen in Zusammenarbeit mit den Bürger:innen dazu bei, die Demokratie von innen heraus zu stärken.
So lässt sich vermeiden, dass Politiker:innen die Beratungen dominieren
Um ein Machtungleichgewicht zu vermeiden, trägt das Verhältnis von einem Abgeordneten zu drei Bürger:innen dazu bei, die inhärente Dynamik der Dominanz in den Diskussionen mit Politiker:innen auszugleichen. Die Beratungen finden in kleinen Gruppen von 7 bis 8 Teilnehmenden mit geschulten Moderator:innen statt, um eine gleichberechtigte Beteiligung zu gewährleisten und politischen Druck zu vermeiden. Darüber hinaus wird eine gezielte Schulung für Abgeordnete angeboten, die sich auf Kernwerte wie aktives Zuhören, Mitgestaltung und Respekt vor der Meinung anderer konzentriert. 97 % der Teilnehmehmenden (Bürger:innen und Abgeordnete) gaben an, dass die Debatten in einer respektvollen Art und Weise und unter Berücksichtigung der Meinung aller geführt wurden.
Warum ist die Phase der Weiterverfolgung so wichtig?
Die Deliberativen Parlamentsausschüsse stellen die Weiterverfolgung der Empfehlungen in den Mittelpunkt des Prozesses. Laut dem OECD-Bericht „Catching the Deliberative Wave“ fehlt diese Phase häufig in den deliberativen Versammlungen, die sich rein aus Bürger:innen zusammensetzen. Das Treffen zur Besprechung von Folgemaßnahmen, das 6 bis 9 Monate nach der Abstimmung über die Empfehlungen stattfindet (siehe Grafik Deliberative Parlamentsausschüsse in Brüssel), basiert auf den Beschlüssen des Ausschusses. Die Teilnehmenden setzen sich auch in dieser Phase für die gemeinsamen Positionen ein. Hilfreich ist ein Beratungstermin unter den Bürger:innen, damit keine Widersprüche entstehen und vermieden wird, dass Bürger:innen in der Nachbereitungsphase eine individuelle Position einnehmen. Die Nachbereitungssitzung beginnt mit einer Präsentation der parlamentarischen Berichterstatter:innen und der zuständigen Minister:innen über das, was getan wurde. Jede einzelne Empfehlung wird besprochen. Anschließend diskutieren die Bürger:innen gemeinsam über die politische Nachbereitung, bevor sie im Plenum ihre (Un-) Zufriedenheit darlegen und Punkte benennen, die weitere Anstrengungen zur Umsetzung benötigen. Die Bürger:innen werden auch für diese Sitzung entschädigt.
Die Tatsache, dass es sich um einen dauerhaften Prozess handelt und dass die beteiligten Abgeordneten die Folgemaßnahmen begleiten, ist ein großer Vorteil. Durch ihre Mitarbeit kennen Abgeordnete nicht nur die Empfehlungen, sondern auch die Informationen und Argumente. So ist es wahrscheinlicher, dass sie die Bedeutung der Folgemaßnahmen verstehen und schließlich Gesetzesvorlagen zur Umsetzung der Empfehlungen einbringen. Da die Umsetzung neuer politischer Maßnahmen oft länger als 6 Monate dauert, können sich die Teilnehmenden auf der Website www.democratie.brussels über die aus ihrer Arbeit hervorgegangenen Gesetzesvorschläge informieren.
Was kommt als Nächstes?
Gelernte Lektionen
Die beratenden Ausschüsse werden kontinuierlich evaluiert. Erste Verbesserungen wurden bereits vorgenommen: Begrenzung der Anzahl der Empfehlungen, Anwesenheit von themenbezogenen Expert:innen in jeder Phase, um die Qualität der Beratungen zu verbessern.
Folgende Verbesserungen werden angestrebt, um den Prozess zu stärken:
- Änderung der Verfassung, um den Stimmen von Bürger:innen verbindliche Gewichtung zu geben (derzeit haben die Stimmen der Bürger:innen ausschließlich beratenden Charakter).
- Entwicklung von „Bürgerschaftsurlauben“, um Arbeitszeit freizugeben und die Sitzungen nicht auf Wochenenden und Abende zu beschränken.
- Integration der Bevölkerungsgruppen, die am weitesten von einer Beteiligung entfernt sind: Obdachlose, Migranten ohne Papiere und stark benachteiligte Menschen.
Message to go:
Autoren
Jonathan Moskovic
jmoskovic@parlementfrancophone.brussels
Bérangère Jouret
bjouret@parlementfrancophone.brussels
Anna Renkamp
anna.renkamp@bertelsmann-stiftung.de
Weiterführende Literatur
Carson, Lyn (2021). Should politicians deliberate alongside citizens? The newDemocracy Foundation. 28 juillet 2021. pp. 7
OECD (2020). Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions: Catching the Deliberative Wave. Éditions OCDE. Paris
OECD (2021). Eight ways to institutionalise deliberative democracy. OECD Public Governance Policy Papers. 2021. pp. 46.
Redman, Kyle (2020). The Brussels Deliberative Committees Model. The newDemocracy Foundation. pp. 6.
Reuchamps, Min (2020). Belgium’s experiment in permanent forms of deliberative democracy.
Impressum
Demokratie und Zusammenhalt
© Januar 2023 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Prof. Dr. Robert Vehrkamp, Anna Renkamp
Titelbild: © Belga/Imago Images
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Projekt New Democracy der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht Ausgaben in unregelmäßigen Abständen.