Spritze wird mit Impfstoff aufgezogen

Weiß, reich, geschützt: Die Corona-Pandemie legt grassierende Ungleichheiten der Gesundheitssysteme offen

Schreiend ungerecht ist die Verteilung von Corona-Impfstoff in der Welt. Doch beim Kampf gegen die Pandemie haben auch viele wohlhabende Länder innerhalb der eigenen Grenzen ein Gerechtigkeitsproblem.

von KAROLA KLATT

Fairness beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und den Kampf gegen ungesunde Lebensverhältnisse stellt die Weltgesundheitsorganisation in den Mittelpunkt ihrer Kampagne zum Weltgesundheitstag am 7. April 2021. COVID-19 habe deutlich werden lassen, dass einige Menschen gesünder leben können und besseren Zugang zu Gesundheitsdiensten haben als andere. Gerade in der Versorgung mit Corona-Impfstoff zeigt sich die ganze Ungerechtigkeit dieser Welt: Obwohl die Pandemie ein globales Problem ist, dass nur global gelöst werden kann, dominieren nationale Egoismen die Politik.

Ungerechtigkeit existiert jedoch nicht nur international, sondern auch innerhalb der Gesundheitswesen vieler Industrieländer. Unterfinanziert und ineffizient haben sie vielerorts eine Mangelversorgung entstehen lassen, die zu langen Wartezeiten für notwendige Behandlungen führt. Entwickelt hat sich eine Art Zweiklassenmedizin, die Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen und geringer sozialer Absicherung klar benachteiligt. In der Corona-Krise mindert die Privatisierung von Gesundheitsleistungen die Möglichkeiten von Regierungen, Gesundheitsressourcen dort einzusetzen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Diskriminierende Effekte der Gesundheitssysteme werden zu gefährlichen Treibern der Pandemie.

Angst vor Behandlungskosten verstärkt Pandemie in den USA

Im letzten Social Justice Index der Bertelsmann Stiftung, der Gesundheit als eine von sechs Dimensionen sozialer Gerechtigkeit in 41 Industrieländern untersucht, heißt es: „Eine Beobachtung, die von vielen Länderexperten gemacht wurde, ist der sprunghafte Anstieg privatwirtschaftlicher Aktivitäten im Gesundheitswesen, wodurch das Prinzip der inklusiven Gesundheitsversorgung untergraben wird.“

Ein Paradebeispiel dafür sind die USA, die sich das teuerste Gesundheitssystem der Welt leistet. Arzt- und Krankenhausrechnungen sind hier, wo eine flächendeckende Krankenversicherung noch immer fehlt, für rund 60 Prozent der Privatinsolvenzen verantwortlich. Aus Angst, aufgrund von Krankheit zahlungsunfähig zu werden, zögerten viele Menschen lange hinaus, sich auf das Virus testen zu lassen oder sich in Behandlung zu begeben. Ein perfekter Nährboden für die Pandemie.

Zahlreiche Studien in den USA belegen, dass Schwarze und Latinos einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, an COVID-19 zu erkranken, schwere Verläufe zu haben und zu sterben. Die Kaiser Family Foundation beobachtet Daten über die Bundesstaaten hinweg und stellt fest, dass schwarze und hispanische Amerikaner auch beim Impfen überall benachteiligt werden, obwohl ihr Erkrankungs- und Sterberisiko im Vergleich zur weißen Bevölkerungsmehrheit deutlich höher liegt.

Griechenland zwingt Privatärzte zur COVID-19-Behandlung

Die Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung untersuchen seit 15 Jahren die Politik und Regierungsfähigkeit von OECD- und EU-Staaten und bewerten dabei auch die Frage, inwieweit nationale Gesundheitspolitiken eine qualitativ hochwertige, allen zugängliche und kosteneffiziente Gesundheitsversorgung ermöglichen. Bei 13 Ländern sehen die Experten hier schwerwiegende Mängel, davon sind 11 Mitgliedsländer der EU.

Eines dieser Länder ist Griechenland, wo sich verstärkt durch die Austeritätspolitik ein Überangebot privater medizinischer Dienstleistungen entwickelt hat. Im Industrieländervergleich weist Griechenland die höchste Ärztedichte auf und dennoch herrscht hier einen Mangel an Allgemeinmedizinern und vor allem an Pflegekräften. Die vielen Fachärzte arbeitet mehrheitlich privatwirtschaftlich, da ihnen nach Ansicht der SGI-Länderexperten Anreize fehlen, für die staatliche Gesundheitsvorsorge tätig zu werden. Die Autoren kritisieren: „Ein hoher Anteil der Transaktionen zwischen Patienten und Ärzten wird nicht erfasst und versteuert. Es existieren ungleiche Bedingungen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, die von der Kaufkraft der Haushalte abhängen.“

Wie sich das in einer Pandemielage auswirkt, zeigte sich schon im November 2020, als das griechische Gesundheitsministerium sich genötigt sah, zwei Privatkliniken in Thessaloniki vorrübergehend zu verstaatlichen, damit sie COVID-19-Patienten aufnehmen, was sie zuvor aus Angst vor Imageschäden verweigert hatten. Und auch in der dritten Corona-Welle im März 2021 kündigte der Gesundheitsminister Vassilis Kikilias an, notfalls zwangsweise Privatärzte für die Behandlung von COVID-19-Patienten zu rekrutieren.

Ungarn stellt Bestechung im Gesundheitswesen unter Strafe

Ein anderes Gesundheitssystem, das nach Ansicht der SGI-Länderexperten gravierende Gerechtigkeitsprobleme hat, ist das ungarische: „Die Orbán-Regierungen haben es versäumt, etwas gegen die weit verbreitete Misswirtschaft und Korruption im Gesundheitswesen, die hohe Schuldenlast der Krankenhäuser, die willkürliche Verweigerung von Leistungen durch medizinisches Personal und die zunehmende Abwanderung von Ärzten und Krankenschwestern in andere Länder zu unternehmen. Qualitativ gute Dienstleistungen sind im privaten Sektor verfügbar, aber nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft.“

Trotz solch harscher Beurteilungen im internationalen Vergleich sah sich Premierminister Viktor Orbán immer gut gerüstet gegen die Pandemie. Tatsächlich hat die Regierung im Kampf gegen das Virus einiges bewegt: Mit breiter Förderung wurde die Eigenproduktion von Desinfektionsmitteln, Schutzausrüstung, medizinischem Verbrauchsmaterial und Beatmungsgeräten angestoßen, provisorische Krankenhäuser für COVID-19-Patienten wurden gebaut und im Rahmen von Orbáns „pragmatischer Außenpolitik“, trotz noch ausstehender EU-Zulassungen, russischer und chinesischer Impfstoff gekauft.

Wie sehr das ungarische Gesundheitswesen dennoch unter Druck steht, kann man an einem gerade in Kraft getretenen Gesetz ablesen: Seit 1. März droht Mitarbeitern des Gesundheitswesens eine dreijährige Haftstrafe, wenn sie „Dankesgelder“ annehmen. Und auch Patienten können für das Anbieten von Bestechungsgeldern zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden.

Unlautere Vorteilsnahme im Zusammenhang mit Impfungen und Bereicherung an Mangelgütern der Pandemie haben wir auch in Deutschland erlebt. Solche Ereignisse wie die zahlreichen Studien über Benachteiligungen machen deutlich, dass der Kampf gegen Corona nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb nationaler Grenzen zur Gerechtigkeitsfrage wird. Privilegierte bei Behandlung und Impfung zu bevorzugen, widerspricht demokratischen Werten der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Auch in den reichsten Ländern der Welt sind die Regierungen gefordert, Gerechtigkeitsaspekten in der Pandemiebekämpfung einen hohen Stellenwert beizumessen, damit das Vertrauen in ihre politischen Systeme nicht verspielt wird.

Karola Klatt ist Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung.