Deutsche Fahne vor dem Reichstagsgebäude

Machtwort und Alleingänge

Die deutsche Regierung offenbart gravierende Mängel in der interministeriellen Zusammenarbeit. Warum die politische Koordinierung in anderen Ländern besser gelingt.

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Von Karola Klatt

In jüngster Zeit haben wir erlebt, wie Bundeskanzler Olaf Scholz seine sogenannte Richtlinienkompetenz, ein verfassungsmäßig zugestandenes Machtwort, gebrauchte, um dem erbitterten Streit der beiden Minister Robert Habeck und Christian Lindner zum Thema AKW-Laufzeiten ein Ende zu setzen. Untereinander waren die Ministerien offenbar nicht in der Lage, eine Einigung zu erzielen. Kurz darauf drückte Scholz gegen den Einspruch von sechs Fachministerien eine, wenn auch abgespeckte, Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an einem Terminal des Hamburger Hafens durch. Diese Machtdemonstrationen des Bundeskanzlers zeigen deutlich: Es hakt in der Zusammenarbeit zwischen den Ministerien und auch in der Kooperation der Ministerien mit dem Kanzleramt.

Einerseits zeigen diese jüngsten Verwerfungen, dass der Zusammenhalt in der Koalition doch nicht so groß ist, wie es nach außen scheinen sollte, und jede der drei Ampelparteien um ihre Profilierung kämpft. Andererseits gibt es auch strukturelle Gründe für dieses offensichtliche Unvermögen in der politischen Zusammenarbeit.

Grabenkämpfe statt Zusammenarbeit

In einer neuen Studie identifizieren Wissenschaftler der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung Schwachstellen des Regierungshandelns, die es liberalen Demokratien erschweren, systemische Krisen, wie den Klimawandel, das Artensterben, die geopolitische Neuordnung der Welt oder die Bedrohung durch Pandemien, wirksam und mit einer langfristigen Orientierung zu bewältigen. Eines dieser Probleme ist der Mangel an politischer Koordinierung. „Das Silodenken innerhalb einzelner Regierungsstellen und ‑ebenen stellt eine ernsthafte Herausforderung für die politische Kohärenz dar“, urteilen die Autoren.

Es mag kaum verwundern, dass Deutschland im Vergleich der 41 untersuchten OECD- und EU-Länder bei der politischen Koordinationsfähigkeit verhältnismäßig schlecht abschneidet. Die größten Herausforderungen für Deutschlands dezentrales Regierungssystem sind nach der Studie „die wenig effektive Koordinierung zwischen Kanzleramt und Fachministerien (Rang 30), die unzureichende bereichsspezifische Expertise des Kanzleramts, die seine Kontrollmöglichkeiten gegenüber den Fachministerien einschränkt (Rang 23), sowie ein Mangel an proaktiver Abstimmung bei Kabinettsvorlagen (Rang 28).“

Gute Zusammenarbeit in Mehr-Parteien-Koalitionen

In Deutschland herrscht das sogenannte Ressortprinzip, nach dem die Minister ihre Aufgabenbereiche in eigener Verantwortung leiten. Deshalb ist auch die Vorbereitung von Gesetzesvorlagen vor allem Sache der Fachministerien. Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien und Kanzleramt werden in regelmäßigen Treffen auf der Ebene der Staatssekretäre und Mitarbeiter des Kanzleramts besprochen und nach Möglichkeit gelöst.

In Finnland, das schon seit vielen Jahren das Ranking der Fähigkeit zur politischen Koordination anführt, existiert ein anderes Verständnis von den Aufgaben der Fachministerien. Das Land hat viel Erfahrung mit dem Regieren in Mehr-Parteien-Koalitionen. Auch die derzeitige unter Ministerpräsidentin Sanna Marin besteht aus fünf, auch ideologisch verschiedenen Parteien. Hier wird erwartet, dass vom Amt der Premierministerin auf der Basis des gemeinsam beschlossenen Regierungsprogramms die politische Initiative ausgeht. Die Ministerien leisten dann die thematische Vorbereitung der Vorhaben. Unterstützt werden sie in ihrer Entscheidungsfindung von Analyse-, Bewertungs- und Forschungsaktivitäten, die wiederum vom Amt der Regierungschefin koordiniert werden. Auch die Koordinierung der Kommunikation zwischen Regierung und den verschiedenen Ministerien liegt im Aufgabenbereich des Amts der Ministerpräsidentin.

Zum finnischen Erfolgsmodell trägt außerdem bei, dass die meisten Themen und Vorhaben zuerst in Kabinettsausschüssen und Arbeitsgruppen besprochen und geprüft werden, bevor sie ihren Weg in die Kabinettssitzungen finden. Auf diese Weise wird versucht, schon im Vorfeld einen Konsens zwischen den betroffenen Ministerien herzustellen.

Was lässt sich in Deutschland verbessern?

Das Ressortprinzip ließe sich in Deutschland nur mit einer Grundgesetzänderung abschaffen. Dennoch gibt es auch hier Wege, dem Silodenken der mächtigen Ministerien entgegenzuwirken.

Von Kanada lässt sich beispielsweise lernen, zentrale, unabhängige Beratungsinstanzen zu schaffen, auszubauen und ihre Rolle im Politikbetrieb zu stärken. Die kanadischen Fachministerien sind beispielsweise verpflichtet, das Privy Council Office in die Prüfung politischer Vorhaben einzubeziehen. Diese Behörde berät den Premierminister, die Fachministerien, das Kabinett und die Kabinettsausschüsse professionell und unparteiisch in Angelegenheiten von nationaler und internationaler Bedeutung. Sie hilft bei der Umsetzung des Regierungsprogramms und stellt sicher, dass der Beschlussfassungsprozess des Kabinetts reibungslos abläuft. Finance Canada und das Treasury Board sind weitere unabhängige Instanzen, die regelmäßig und unabhängig Gesetzesvorhaben prüfen.

Modernisierung durch Digitalisierung

Eine weitere Möglichkeit wäre, die Regierungsgeschäfte konsequent zu digitalisieren, wie das etwa in Neuseeland bereits geschehen ist. Hier wurden hohe Regierungspositionen geschaffen – der Chief Digital Officer und der Chief Data Steward – die gemeinsam mit 55 hochrangigen Führungskräften aus mehr als 20 Behörden daran arbeiten, ein kohärentes, behördenübergreifendes, digitales System bereitzustellen, das die kooperative Arbeitsweise der Regierung fördert.

In Deutschland hat erst die COVID‑19-Pandemie der Einführung von E-Governance-Mechanismen einen Bedeutungsschub gebracht. Die Schaffung einer elektronischen Aktenführung für Kanzleramt, Ministerien und Behörden in einer Bundescloud befindet sich noch im Aufbau. Zu hoffen ist, dass mit der E-Governance auch endlich eine agilere Denkweise in der Zusammenarbeit zwischen Kanzleramt, Ministerien und Ländern Einzug hält.

Jeder Staat muss heute in der Lage sein, schnell auf Krisen zu reagieren und deren Folgen abzumildern, ohne die langfristige Orientierung auf kohärente politische Ziele hin aus den Augen zu verlieren. Entscheidend dafür wird es sein, die institutionellen Schwachstellen im politischen Betrieb zu erkennen und neue Methoden und Prozesse in den politischen Entscheidungsprozess zu integrieren, die dazu beitragen können, Blockaden aufzulösen und gemeinsam statt gegeneinander zu nachhaltigen Lösungen zu kommen.

Karola Klatt is a science journalist and editor of SGI News and the Bertelsmann Stiftung’s BTI Blog.