Pressemitteilung, , Gütersloh: „Maastricht 2.0“ – Vorschlag für eine neue Verschuldungsregel

Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung

Der im März dieses Jahres beschlossene Fiskalpakt ist allerdings nur ein halbherziger Versuch zur Stabilisierung der europäischen Staatsfinanzen. Denn die dort beschlossenen Maßnahmen der europäischen Schuldenbremse haben meiner Überzeugung nach drei gravierende Mängel: Sie sind auf lange Sicht zu restriktiv, dafür in der kurzen Frist zu lax, und sie nehmen keine Rücksicht auf länderspezifische Gegebenheiten. Ich plädiere deshalb für eine flexible Entschuldungsstrategie ohne diese Mängel: „Maastricht 2.0“.

Diese Alternative zeichnet sich durch folgende Kernelemente aus: Als tragfähiges Niveau der staatlichen Verschuldung wird ein Schuldenstand in Höhe von 60 Prozent des nominalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) angesehen. Dieser Wert hat sich in der politischen Diskussion etabliert. Eine Reglementierung der staatlichen Defizite unterhalb dieser Grenze ist grundsätzlich nicht notwendig. Verbindliche Vorgaben empfehlen sich trotzdem, um Fehlentwicklungen frühzeitig korrigieren zu können. Im Sinne der Wachstumsfreundlichkeit sollten diese Obergrenzen jedoch höher sein als bei der europäischen Schuldenbremse. „Maastricht 2.0“ sieht deshalb eine Begrenzung des jährlich zulässigen Staatsdefizits auf maximal drei Prozent des nominalen BIP vor.

Sobald die öffentliche Verschuldung mehr als 60 Prozent des BIP erreicht hat, berechnet „Maastricht 2.0“ die maximal erlaubten Defizitquoten mit Hilfe des langfristig zu erwartenden Wirtschaftswachstums jedes Landes. Nach unseren Berechnungen betragen diese Defizitquoten rund ein Prozent und liegen damit über den zulässigen 0,5 Prozent der europäischen Schuldenbremse. Länder, für die langfristig ein schwächeres Wirtschaftswachstum prognostiziert wird, haben etwas geringere Spielräume. Dazu gehören Irland und Italien mit Defizitquoten von knapp 0,75 bzw. 0,8 Prozent. In einer konjunkturellen Schwächephase ist ein höheres Defizit zulässig. Dieses muss jedoch durch ein geringeres Staatsdefizit in wirtschaftlichen Boom-Phasen kompensiert werden.

Berechnet wird zudem die Dauer, innerhalb der ein tragfähiger Schuldenstand wieder erreicht wird. Dieser zeitliche Rahmen wird zu Beginn der Konsolidierungsphase festgelegt und dann nicht mehr verändert. Sollte sich im Laufe der Zeit die langfristige Wachstumsrate eines Landes verringern, wird die maximal zulässige Defizitquote reduziert und so angepasst, dass nach wie vor innerhalb des ursprünglich festgelegten Zeitplans der 60-Prozent-Schuldenstand erreicht wird. Die Länge der Konsolidierungsphase hängt maßgeblich von der Verschuldung eines Staates in der Ausgangslage ab. Für Staaten mit einem Schuldenstand in Höhe von rund 80 Prozent des BIP (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) dauert diese Phase rund 20 Jahre. Italien und Griechenland benötigen hingegen fast 45 Jahre.

Mittel- und langfristig räumt „Maastricht 2.0“ den hochverschuldeten Staaten also größere Handlungsspielräume ein als die europäische Schuldenbremse. Damit diese Staaten dennoch einen tragfähigen Schuldenstand erreichen, müssen sie in den ersten Jahren größere Sparanstrengungen unternehmen. Sowohl die europäische Schuldenbremse als auch „Maastricht 2.0“ räumen den Staaten eine Übergangsphase von sechs Jahren ein, innerhalb der sie die langfristig zulässigen Defizitquoten erreichen müssen. Im Gegensatz zur europäischen Schuldenbremse verlangt „Maastricht 2.0“ allerdings in den ersten Jahren eine stärkere Reduzierung der Defizitquote.

Es gibt somit einen grundsätzlichen Zielkonflikt: Entweder bauen die Staaten ihre Schulden kurzfristig relativ langsam ab, dann müssen sie diese Entscheidung mittel- und langfristig mit restriktiven Defizitquoten erkaufen. Oder die Staaten haben mittel- und langfristig einen größeren Handlungsspielraum. Dies verlangt jedoch kurzfristig größere finanzielle Einschränkungen. Für einen Weg muss sich Europa entscheiden. Ich plädiere für die zweite Handlungsalternative, weil sie langfristig eindeutig wachstumsfreundlicher ist. Kurzfristig resultieren aus den restriktiveren Regelungen von „Maastricht 2.0“ zwar Wachstumseinbußen. Mittelfristig kommt es jedoch zu einem größeren Wirtschaftswachstum. Spätestens ab dem Jahr 2025 ist das reale BIP in allen EU-Ländern größer als unter der europäischen Schuldenbremse. Bis zum Jahr 2030 erreichen die kumulierten realen Wachstumsgewinne von „Maastricht 2.0“ für die gesamte EU eine Höhe von etwas mehr als 450 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Am 1. April 2012 betrug Portugals Staatsverschuldung 190 Milliarden Euro. Griechenlands Staatsverschuldung hat nach dem Schuldenschnitt zuletzt im Juli wieder die 300 Milliarden Euro-Marke überschritten.

Studien auf nationaler und internationaler Ebene zeigen: Erfolgreiche Haushaltskonsolidierungen sind das Ergebnis von Ausgabensenkungen und gleichzeitigen Einnahmeerhöhungen sowie prozeduralen Änderungen im Haushaltsaufstellungsverfahren, die zu strengeren Haushaltsregeln führen. Bei den Ausgaben- und Einnahmeänderungen wurden die Lasten der Konsolidierung nicht einzelnen Bevölkerungsgruppen aufgebürdet, sondern von allen Bürgern durch geringere staatliche Leistungen und/oder höhere Steuern und Beiträge getragen. Soll die Konsolidierung nachhaltig tragfähig sein, sind darüber hinaus strukturelle Reformen unerlässlich. Besonders wichtig sind hier vor allem weitere Rentenreformen, da sie generationengerecht sind, die ökonomische Leistungsfähigkeit sichern sowie aufgrund ihres hohen Volumens einen wesentlichen Beitrag zur fiskalischen Konsolidierung leisten. Eine nachhaltige gesamteuropäische Konsolidierungsstrategie verlangt also, dass wir den Staaten langfristig größere Handlungsspielräume und mehr Zeit zum Schuldenabbau einräumen, dafür aber sofort mit einem schnellen Abbau der Verschuldung beginnen. Dass so etwas möglich ist, hat Schweden bewiesen. 1993 lag das öffentliche Finanzierungsdefizit dort nach einer schweren Wirtschaftskrise bei über 11 Prozent des BIP. Durch Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen konnte es in kurzer Zeit drastisch reduziert werden. 1997 lag die Defizitquote nur noch bei rund 1,5 Prozent des BIP, und in den Folgejahren wurden sogar Budgetüberschüsse erwirtschaftet. Auch Belgien hatte 1993 eine Defizitquote von rund 7,5 Prozent. Bereits 1998 betrug das Staatsdefizit nur noch rund ein Prozent des BIP. Im Jahr 2001 wurde sogar ein leichter Überschuss in Höhe von 0,4 Prozent des BIP erreicht. Kanada und Neuseeland schafften in den 1990er Jahren einen ähnlichen Kraftakt. Eine rasche Konsolidierung ist also möglich – sie muss jedoch politisch gewollt sein.

Dieser Gastbeitrag von Aart De Geus erschien in der Süddeutschen Zeitung.