Thomas Spang: Präsident Barack Obama hat vor dem Besuch Angela Merkels im Weißen Haus gesagt, vor jeder weiteren Entscheidung zur Ukraine, wolle er hören, was die Kanzlerin über die Krise denke. Es scheint, die Bundeskanzlerin ist für den Präsidenten die Ansprechpartnerin in Europa geworden.
Annette Heuser: Alle Augen richten sich in dieser Krise auf Bundeskanzlerin Merkel. Aus dem Weißen Haus kommt dazu umgekehrt relativ wenig. Das Ganze ist für Berlin nicht unproblematisch. Der Erwartungsdruck der Verbündeten und allen voran der Amerikaner ist riesig. Früher standen die Deutschen am Spielfeldrand. Jetzt ist Merkel Spielführerin und Kapitän, während Barack Obama in der Abwehr steht.
"Merkel ist Spielführerin, während Obama in der Abwehr steht"
Ukraine, Islamischer Staat, NSA-Affäre, TTIP: Zum Besuch von Kanzlerin Merkel bei Präsident Obama sind die Herausforderungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis groß. Annette Heuser, Leiterin der Bertelsmann Foundation in Washington, DC, gibt im Interview mit Thomas Spang Einschätzungen.
Haben sich die Deutschen das nicht immer gewünscht? Statt Alleingängen der Amerikaner eine Arbeitsteilung, die dann aber auch mehr Verantwortung mit sich bringt.
Ich sehe da wenig von einer Arbeitsteilung. Die Last, mit Putin umzugehen, liegt fast ausschließlich bei Merkel. Das Einzige, was aus den USA kommt, sind Überlegungen, Waffen in die Ukraine zu liefern. Das ist für sich genommen zu wenig, weil eine Gesamtstrategie fehlt. Wir sehen zurzeit viel Phantasielosigkeit in der amerikanischen Außenpolitik. Und das nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Mittleren Osten. Deutschland dagegen fühlt sich immer noch unwohl in einer exponierteren Rolle auf der internationalen Bühne. Außen- und sicherheitspolitisch nähert sich Berlin erst dem Erwachsenen-Status an.
Das klingt nach Überforderung.
Die Erwartungshaltung an Merkel ist übergroß. Auf ihrer Agenda stehen ja nicht nur die Ukraine und Russland, sondern der Zusammenhalt der Eurozone, der Umgang mit der neuen sprunghaften Regierung in Griechenland. Schließlich muss sie all das mit einem eigenen Koalitionspartner abstimmen, der sich, insbesondere was Russland angeht, bisher kompromisslos zeigt. Da gibt es aber doch noch Brüssel, die Achse Berlin-Paris und nicht zu vergessen die britische Diplomatie.
Bis auf den französischen Präsidenten Hollande, der mit der Kanzlerin in Kiew und Moskau war, hat Merkel, um in der Fußball-Analogie zu bleiben, keine Anspielpartner in Europa. Die Briten sind während der ersten geopolitischen Krise des 21. Jahrhunderts von der Bildfläche verschwunden. Ein bemerkenswerter Vorgang, der bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Von den Lenkern der EU, Claude Juncker, Donald Tusk und Federica Mogherini ist auch nicht viel zu sehen. Und der Italiener Matteo Renzi ist ein außenpolitischer Ausfall.
Halten sie es für denkbar, dass die US-Regierung gegen den Wunsch Berlins Waffen in die Ukraine liefern würde?
So wie die Debatte in Washington zurzeit läuft, halte ich das für sehr gut vorstellbar. Der amerikanische Präsident wird der Fairness halber gewiss eine Abstimmung mit Merkel suchen. Wenn sich Putin nicht in einen konstruktiven Dialog einbinden lässt, stellt sich die Frage, ob wir nicht verpflichtet sind, der Ukraine die Chance zu geben, sich selber zu verteidigen. Diese Debatte muss dann auch in Deutschland geführt werden.
Die Ukraine-Krise fordert ja auch die NATO heraus, die gerade die Verdoppelung der schnellen Eingreiftruppe für Osteuropa beschlossen hat. Falls Putin an seinem Kurs festhält, kommt das Bündnis dann daran vorbei, permanent Truppen in Polen und im Baltikum zu stationieren?
Ich glaube nicht. Die NATO müsste dann Präsenz zeigen. Putin braucht das klare Signal vom Westen: Bis hierhin und nicht weiter. Zumal die Nachbarstaaten die Bedrohung aus Russland aufgrund ihrer Geschichte ganz anders empfinden. Die Doppelkrise in der Ukraine und mit der ISIS ist der ultimative Stresstest für die europäische Sicherheitspolitik und die transatlantischen Beziehungen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns in den vergangenen Jahrzehnten zeitgleich zwei so extremen Krisen ausgesetzt sahen, für die wir eine Lösung finden mussten. Hier ein klassischer Territorial-Konflikt des vergangenen Jahrhunderts zwischen der Ukraine und Russland, da eine transnationale Bedrohung durch einen nicht-staatlichen Akteur wie ISIS.
Welche Erwartungen bestehen im Weißen Haus denn mit Blick auf die Bedrohung durch den Islamischen Staat?
Auch dabei wird die Frage hochkochen, wie sich die Europäer am Kampf gegen die ISIS beteiligen können. Die Anschläge von Paris waren gewiss ein Weckruf. Niemand macht sich Illusionen, dass sich diese Gefahr mit Schlägen aus der Luft beseitigen lässt. Letztlich werden dafür auch Bodentruppen gebraucht. Da wird es für Deutschland nicht reichen, darauf hinzuweisen, die Kurden bewaffnet zu haben.
Dieselbe unangenehme Debatte dürfte bei den Themen geheimdienstliche Zusammenarbeit und Überwachung anstehen.
Gewiss bleiben die Meinungsverschiedenheiten zu NSA und Privatsphäre bestehen, aber angesichts der aktuellen Bedrohungslage dürfen wir nicht nur jammern. Wir müssen einen konstruktiven Weg finden, wie unsere Geheimdienste künftig zusammenarbeiten können.
Vor der geopolitischen Doppelkrise in der Ukraine und im Mittleren Osten galt das Freihandelsabkommen TTIP einmal als transatlantisches Zukunftsprojekt, das Europa und die USA näher bringen sollte. Jetzt ist es ziemlich in den Hintergrund geraten. Besteht noch eine Chance, zur Amtszeit Obamas zu einem Ergebnis zu kommen?
Die Verhandlungen lassen sich vielleicht bis zum Frühjahr 2016 abschließen. Dass es noch vor den Wahlen ratifiziert wird, darauf schließt hier in Washington niemand mehr eine Wette ab. Diese Aufgabe fiele dann der neuen US-Regierung zu. Dass TTIP zurzeit auf kleiner Flamme kocht, finde ich sogar hilfreich. Es nimmt den Hype um das Abkommen raus. Für eine Zeit machte die Debatte den Eindruck, als ob TTIP als Sündenbock für alle Frustrationen über die NSA und die Amerikaner herhalten musste. Das normalisiert sich gerade.
Aber das Freihandelsabkommen ist ja auch nicht gerade überzeugend verkauft worden?
Stimmt. Die Chancen für die Verbraucher und die Möglichkeiten, soziale und ökologische Standards im Welthandel zu setzen, kamen in der Debatte kaum vor. Aber ich gehöre nicht zu denen, die sagen, TTIP ist die letzte Chance, das zu erreichen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Thomas Spang ist freier Journalist, lebt und arbeitet in Washington und schreibt für zahlreiche deutsche Medien.