Union-Jack-Flagge und EU-Flagge kombiniert über ikonischen Londoner Wahrzeichen

Was der Wahlsieg der Labour-Partei in Großbritannien für die EU bedeutet

Das Vereinigte Königreich widersetzt sich mit Labour’s Erdrutschsieg einem europaweiten Rechtsruck und einem Trend zur politischen Entscheidungsunfähigkeit. Keir Starmer’s parlamentarische Mehrheit wird ein vom Populismus befallenes Land zwar stabilisieren, das politische Umfeld bleibt jedoch volatil. Eine Annäherung an die EU im Bereich der Sicherheitspolitik kann zügig erfolgen, EU-seitig wird eine substantielle neue Partnerschaft jedoch mehr Flexibilität, Strategiefähigkeit und politische Kohärenz erfordern.

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Jake Benford
Senior Project Manager

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Mit dem Sieg von Keir Starmer’s Labour Partei in den britischen Unterhauswahlen wurde eine lange Serie politischer Fehleinschätzungen und persönlicher Unzulänglichkeiten der britischen Tories nach 14 Jahren an der Macht hart bestraft. Eine absolute Mehrheit von 172 erinnert an Tony Blair im Jahr 1997, während auf Seiten der Konservativen 11 Kabinetts-Mitglieder ihre Wahlkreise verloren, darunter sowohl ex-Premier Liz Truss als auch Zukunftshoffnungen wie Penny Mordaunt. 

Zwar wurde Labour’s Sieg in England, Schottland, Nordirland und Wales hochgradig begünstigt durch ein eigentlich für ein Zwei-Parteien-System entwickeltes Mehrheitswahlrecht.  Der Anteil der Wählerstimmen ist tatsächlicher minimal höher als bei Labour’s Niederlage 2019, und der Sieg somit auch das Ergebnis spaltender Kräfte, wie der populistischen Reform-Partei, der Renaissance der Liberal Democrats und eines von Labour strategisch überlegt geführten Wahlkampfes.

Schleichender Niedergang

In allererster Linie ist er jedoch Ausdruck der unbändigen Wut britischer Wähler auf den schleichenden wirtschaftlichen Niedergang der letzten 15 Jahre. Britische Reallöhne im Jahr 2023 waren niedriger als im Jahr 2008 und der durchschnittliche britische Haushalt mit mittlerem Einkommen ist heute 20 % ärmer als sein Pendant in Deutschland. Wichtigster Treiber ist ein Produktivitätsrückstand, der sich seit 2008 gegenüber Ländern wie Deutschland und Frankreich verdreifacht hat.

Der EU-Austritt verschärfte langjährige und tief verwurzelte Probleme, insbesondere eine toxische Kombination aus niedrigem Wachstum und hoher regionaler Ungleichheit. Im Gegensatz zu Blair steht Keir Starmer heute somit vor einem finanziellen Erbe, welches eher mit dem der Labour-Regierung von Clemence Atlee nach dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen ist.

Gemeinsame strategische Prioritäten

Leicht zu vergessen ist vor diesem Hintergrund, dass UK weiterhin zu den reichsten und ressourcenstärksten Ländern der Welt gehört. Die sechstgrößte Volkswirtschaft bringt weltweit führende Unternehmen in Zukunftssektoren wie Finanzdienstleistungen, Luft- und Raumfahrt, Biowissenschaften, sowie in der Kreativwirtschaft und Bildung hervor. Hinzu kommen Vorteile in der Produktion erneuerbarer Energien. Labour’s Fokus ist entsprechend die Wiederbelebung der britischen Wirtschaft.

Britische soft power, diplomatischer Einfluss und militärische Ressourcen (einschließlich der Stellung als Nuklearmacht) machen das Land jedoch auch zu einem relevanten Akteur in Sachen europäischer Sicherheit. Labour’s Wunsch nach einem Sicherheitspakt mit der EU wird in Brüssel entsprechend auf Offenheit stoßen. Eine möglicherweise blockierte Regierung in Frankreich schafft zudem neuen Raum für eine stärkere britisch-deutsche Achse, und tatsächlich stehen beide Länder kurz vor einem neuen bilateralen Sicherheitsabkommen.

Neugestaltung der Beziehungen

Doch wenn die vorsichtige Neuorientierung der Labour-Partei in Richtung Europa zu greifbaren Ergebnissen führen soll, bedarf es beidseitiger Bewegung. Die EU hat seit Abschluss der Brexit-Verhandlungen im Jahr 2020 keine erkennbare politische Position zu ihren Beziehungen zum Vereinigten Königreich geäußert, die den geopolitischen Entwicklungen seitdem Rechnung tragen würden. EU-eigene Ambition einer neuen europäische Sicherheitsordnung, durch verstärkte wirtschaftliche Sicherheit, EU-Erweiterung und strategischer Zusammenarbeit mit "like-minded allies", bieten nun neue Räume für Kooperation mit einem europazugewandten UK. 

Für die Neugestaltung der EU-UK Beziehungen sollten beide Seiten zügig gemeinsame strategische Prioritäten festlegen und das institutionelle Rückgrat der Zusammenarbeit stärken. Gipfeltreffen (wie die EU sie mit Norwegen, der Schweiz oder der Türkei unterhält) würden eine neue Ära der verbesserten Zusammenarbeit unterstreichen. Zudem kann die außen- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit auch ohne EU-Mitgliedschaft Großbritanniens durch eigens eingerichtete Strukturen verbessert werden.

Volatiles politisches Klima

Die schrittweise Vertiefung und Ausweitung der derzeit Handels- und Investitionsbeziehungen sollte in einem parallelen, jedoch zusammengedachten Prozess erfolgen. Dies erfordert ein neues Maß an Pragmatismus, Flexibilität und politischer Kohärenz seitens der EU, die sich oft schwertut, Sicherheit und Wirtschaft zusammenzudenken. Fortschritte würde die Ansprüche Brüssels, ein kohärenter geopolitischer Akteur zu werden, sicherlich untermauern.

Die innenpolitische Dynamik in UK bleibt jedoch trotz Labour’s Mehrheit weiterhin relevant. Zum einen könnten neue Stimmen der großen Labour-Fraktion Druck ausüben, die Annäherung an die EU ehrgeiziger zu gestalten. Das starke Abschneiden der pro-europäischen Liberal Democrats, die 72 Sitze gewonnen haben, würde diesen weiter erhöhen.

Zum anderen erhielt die populistische, inhaltlich substanzlose Reform-Partei 14% der Stimmen britischer Wähler. Dieses bemerkenswerte Ergebnis ist zweifellos eine Erinnerung an das volatile politische Klima dieses Jahrzehnts. Und Parteiführer Nigel Farage, ein überragend effektiver politischer Akteur, hat mit dem Einzug ins Parlament eine neue politische Bühne gewonnen, die er nicht unbenutzt lassen wird.