Rückenansicht Jugendlicher vor einem Sonnenuntergang

Warum eine Kindergrundsicherung auch wirtschaftlich sinnvoll ist

In einem neuen Policy Brief präsentiert die Bertelsmann Stiftung aktuelle Daten zur Kinder- und Jugendarmut in Deutschland. Das Dokument gibt auch einen Überblick über den Forschungsstand zu den ökonomischen Auswirkungen einer Kindergrundsicherung.

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Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung
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Sarah Menne
Senior Project Manager
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Anette Stein
Director

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Die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland bleibt auf hohem Niveau. 2022 lebten drei Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und damit mehr als jeder fünfte junge Mensch in Armut (21,6 Prozent). Hinzu kommen 1,55 Millionen junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren, die ebenfalls von Armut betroffen sind – jede:r Vierte in dieser Altersgruppe. Damit sind die Zahlen im Vergleich zu den Daten aus dem Jahr 2021 noch einmal leicht gestiegen. Diese sind im Factsheet "Kinder- und Jugendarmut in Deutschland" von Ende Januar 2023 nachzulesen.

Der unverändert hohe Anteil der von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen unterstreicht aus Sicht der Bertelsmann Stiftung die Notwendigkeit einer wirksamen Kindergrundsicherung in Deutschland. "Armut stellt nachweislich das größte Risiko für das Heranwachsen junger Menschen dar: Sie führt zu schlechterer Gesundheit, geringeren Bildungschancen, weniger Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Ausgrenzung und Scham", sagt Anette Stein, Director Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung.

Aber auch für die Gesellschaft insgesamt ziehe es hohe Folgekosten nach sich, wenn ein Fünftel der nachwachsenden Generation seiner Zukunftschancen beraubt werde, betont Stein. Ein noch größerer Fachkräftemangel, steigende Sozialausgaben, sinkende Steuereinnahmen, aber auch ein geringerer gesellschaftlicher Zusammenhalt und weniger soziales Engagement seien die Folgen. Das bestätigt Martin Werding, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, einer der Wirtschaftsweisen und Mitglied des Expert:innenbeirats zu diesem Thema bei der Bertelsmann Stiftung: "Eine Kindergrundsicherung ist eine Investition in die Zukunft. Sie hilft gegen den Fachkräftemangel und die Überalterung der Gesellschaft."

Wissenschaftlich fundierte Argumente für eine Kindergrundsicherung

Die Einführung der Kindergrundsicherung stellt daher das wichtigste sozialpolitische Vorhaben der Bundesregierung dar. Nach den Plänen von Bundesfamilienministerin Lisa Paus soll sie ab 2025 greifen. Allerdings diskutiert die Ampelkoalition noch über die konkrete Ausgestaltung. Insbesondere hinsichtlich der Höhe und Finanzierung gibt es Klärungsbedarf innerhalb des Kabinetts. In der politischen wie medialen Auseinandersetzung mit dem Thema tauchen dabei immer wieder Stereotype und Vorurteile auf. "Es gibt gute und wissenschaftlich fundierte Argumente, die für eine Politik gegen Armut und damit eine Kindergrundsicherung sprechen. Leider dringen die in der aktuellen Debatte aber zu wenig durch", betont Antje Funcke, Expertin für Familienpolitik bei der Bertelsmann Stiftung.

Aus diesem Grund haben die Expertinnen der Bertelsmann Stiftung einschlägige und aktuelle Forschungserkenntnisse zusammengetragen, um die Diskussion zu versachlichen. An erster Stelle steht dabei die Behauptung, dass Geldleistungen für Kinder gar nicht bei ihnen ankommen, sondern von den Eltern zweckentfremdet werden. Doch dafür gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Vielmehr zeigen Studien aus Deutschland und auch aus den USA, dass Eltern – egal ob arm oder reich – in aller Regel das Beste für ihre Kinder wollen. Geld vom Staat nutzen sie, um ihren Kindern Hobbies zu ermöglichen, eine gute Betreuung zu gewährleisten oder auch, um sie gut zu ernähren.

Die Kindergrundsicherung ist ein echtes Chancengeld, und das muss auch in einer angespannten Haushaltslage Priorität haben.

Anette Stein, Director Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung

Geldleistungen und Bildungsausgaben nicht gegeneinander ausspielen

Auch werden immer wieder anstelle von Geldleistungen für Kinder Investitionen in Bildung gefordert. "Leider gelingt aber ein solcher Aufstieg durch Bildung in unserem Bildungssystem schon lange nicht mehr wirklich", sagt Funcke. Tatsächlich hängt der Bildungserfolg in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Bekannt und wissenschaftlich belegt ist das bereits seit dem PISA-Schock im Jahr 2001. Erst kürzlich zeigten die IGLU-Studie sowie der Chancenmonitor des ifo-Instituts, dass Viertklässler:innen aus armen Familien deutlich schlechter lesen und auch seltener auf das Gymnasium gehen, als Gleichaltrige aus einkommensstarken Familien. "Es ist an der Zeit, endlich beide Probleme im Kontext zu sehen und gemeinsam anzugehen. Kinder und Jugendliche brauchen finanzielle Sicherheit zuhause und eine gute, faire Bildung. Beides sollte politische Priorität haben und darf nicht gegeneinander ausgespielt werden", so die Expertin.

Um Kinderarmut wirksam zu vermeiden und jungen Menschen ein gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe zu ermöglichen, muss die Kindergrundsicherung höher sein als die heutigen Regelbedarfe. Aus ökonomischer Sicht ist das Geld dafür gut angelegt. Aktuelle Forschungsergebnisse aus den USA zeigen, dass sich Ausgaben für die Vermeidung von Kinderarmut langfristig rechnen. Die Kinder erwerben in der Schulzeit höhere Kompetenzen, erzielen im Erwachsenenalter höhere Einkommen, zahlen mehr Steuern und müssen seltener staatlich unterstützt werden. "Geldleistungen kommen an und zeigen Wirkung. Das ist keine Meinungsfrage, sondern klare wissenschaftliche Evidenz", fasst Holger Stichnoth, Professor an der Universität Straßburg, Forschungsgruppenleiter am ZEW Mannheim und ebenfalls Mitglied der Expert:innenrunde der Stiftung, die Befunde zusammen. "Diese Forschungsergebnisse sollten ein Weckruf für die Politik sein, endlich mit der Vermeidung von Kinderarmut ernst zu machen", betont Antje Funcke.

"Die Kindergrundsicherung ist ein echtes Chancengeld"

Aus Sicht der Bertelsmann Stiftung muss eine Kindergrundsicherung, die den Namen verdient, drei Kriterien erfüllen: Sie sollte erstens so hoch sein, dass sie die altersgerechten Bedarfe von jungen Menschen tatsächlich deckt und diese an der Bedarfsermittlung beteiligt. Zweitens muss sie einfach und unbürokratisch zu beantragen sein, damit sie bei allen Kindern ankommt. Die Bringschuld liegt hier beim Staat. Drittens muss die Kindergrundsicherung insbesondere am unteren Einkommensrand wirken, um Armut zu vermeiden. Kindergelderhöhungen helfen hier nicht weiter, da sie bei armen Familien vollständig auf das Bürgergeld angerechnet werden. "Die Kindergrundsicherung ist ein echtes Chancengeld, und das muss auch in einer angespannten Haushaltslage Priorität haben", so das Fazit von Anette Stein. Zwei Milliarden Euro reichten da nicht aus, um Armut wirklich zu bekämpfen, so die beiden Experten Werding und Stichnoth mit Blick auf die aktuelle Debatte einhellig. Eine Kindergrundsicherung würde erst daraus, wenn noch deutlich etwas draufgelegt würde. "Sonst verdient sie ihren Namen nicht", resümiert Werding.

Was die Bundesfamilienministerin zur Kindergrundsicherung denkt, können Sie auch im Podcast "Zukunft gestalten" der Bertelsmann Stiftung nachhören. Lisa Paus stellte sich darin im Mai 2023 den Fragen von Malva Sucker und Jochen Arntz.