Menschengruppe

Erschöpfte Gesellschaft - Auswirkungen von 24 Monaten Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Nach 24 Monaten der Corona-Pandemie hat der gesellschaftliche Zusammenhalt gelitten. Das zeigt eine neue Umfrage aus dem Februar. Nachdem zu Beginn der Pandemie im ersten Halbjahr 2020 der Zusammenhalt sogar stärker wurde, sind die Werte im Februar 2022 teilweise deutlich gefallen. 

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Dr. Kai Unzicker
Senior Project Manager

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Die aktuelle Umfrage weist beispielsweise ein besonders niedriges Vertrauen in politische Institutionen sowie in die Mitmenschen generell aus. Auch haben mehr Menschen in Deutschland den Eindruck, die Leute würden sich nicht mehr umeinander kümmern und man könne sich auf niemanden mehr verlassen. Ebenso sind Zukunftssorgen heute verbreiteter als noch in der Frühphase der Pandemie.

Die Menschen in Deutschland sind nach 24 Monaten Pandemie erschöpft und unzufrieden, sie machen sich mehr Sorgen um ihre Zukunft und fühlen sich häufiger einsam

Dr. Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung

Gesunkene Lebenszufriedenheit und Zunahme von Zukunftssorgen

Bereits seit vielen Jahren ist die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland stark ausgeprägt. Überraschend ist daher, dass im ersten Pandemiesommer 2020 nur 72 Prozent der Befragten – das sind 13 Prozent weniger als im Frühjahr des gleichen Jahres – die Meinung vertreten, der Zusammenhalt in Deutschland sei gefährdet. Inzwischen sind jedoch wieder über 80 Prozent dieser Auffassung. Ein deutlicher Einbruch ist auch bei der allgemeinen Lebenszufriedenheit festzustellen. In allen Erhebungen der Bertelsmann Stiftung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt seit 2017 bezeichnen mehr als 80 Prozent der Befragten ihre Lebenszufriedenheit als hoch. Anfang dieses Jahres sind es gerade einmal 67 Prozent. Auch die Zukunftssorgen haben zugenommen. Insbesondere gilt dies für die Befragten mit geringem Einkommen. Von ihnen sagen 64 Prozent, dass sie sich große Sorgen um ihre Zukunft machen.

Rückgang bei der wahrgenommenen Solidarität

Die Anfangsmonate der Pandemie waren eine Zeit großer Solidarität und Hilfsbereitschaft: Nachbarschaftshilfen und viele weitere kreative Formen der Unterstützung entstanden. Dies spiegelt sich auch in den Umfragedaten aus dem Jahr 2020 wider: Im Sommer des ersten Pandemiejahres sind gerade einmal 21 Prozent der Befragten der Meinung, die meisten Leute kümmerten sich in Wirklichkeit gar nicht darum, was mit ihren Mitmenschen geschieht. Die gelebte Solidarität in der Krise hat hier also auch die Sicht aufeinander beeinflusst. Im Jahr 2022 ist davon wenig geblieben. Jetzt sind 59 Prozent der Meinung, die Menschen würden sich nicht umeinander kümmern, und 28 Prozent sagen, man könne sich auf niemanden verlassen. Beide Werte liegen erheblich höher als vor der Pandemie.

In der Krise hat unsere Gesellschaft ihr wahres, ihr solidarisches Gesicht gezeigt, aber auf Dauer ist das kaum durchzuhalten. Die letzten Monate haben die Kräfte vieler Menschen aufgezehrt

Dr. Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung

Vertrauen in die Politik hat gelitten

Deutlich unzufriedener sind die Befragten inzwischen auch wieder mit der Politik. Steigen zu Beginn der Pandemie das Vertrauen in und die Zufriedenheit mit Regierung und Demokratie an, verzeichnet die Umfrage im Februar 2022 ein Absinken unter die Ausgangswerte vor der Pandemie. So sagen unmittelbar vor dem ersten Lockdown im Februar und März 2020 24 Prozent der Befragten, dass sie großes oder sehr großes Vertrauen in die Bundesregierung haben. Im Sommer 2020 verzeichnet die Bertelsmann Stiftung fast eine Verdoppelung auf 45 Prozent und jetzt, im Februar 2022, sind gerade einmal 18 Prozent noch dieser Auffassung. Besorgniserregend ist insbesondere, dass Anfang dieses Jahres nur noch weniger als die Hälfte der Deutschen uneingeschränkt zufrieden mit der Demokratie ist. Und auch hierbei zeigt sich ein sozio-ökonomisches Gefälle: Befragte mit höherem Einkommen und höherer Bildung sind zufriedener mit der Demokratie und sie haben ein größeres Vertrauen in die Regierung.

Potential für Glaube an Verschwörungstheorien hoch

Auch die Haltung zu Verschwörungstheorien und zu den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen wurden in der Erhebung abgefragt. Nur eine Minderheit von 15 Prozent ist der Meinung, die Corona-Pandemie sei ein Schwindel und die Schutzmaßnahmen eine hysterische Überreaktion. Jedoch sind rund 40 Prozent der Auffassung, die Regierung würde bei vielen Ereignissen die Wahrheit verschleiern. Das lässt ein relativ großes Potential für Verschwörungstheorien und Desinformation erkennen. Anhänger:innen von Verschwörungstheorien zeichnen sich gemäß den Umfrageergebnissen durch ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen aus, sind unzufriedener mit der Demokratie, nehmen weniger Solidarität und mehr Zerstrittenheit in der Gesellschaft wahr, haben häufiger den Eindruck, man könne sich auf niemanden verlassen, und sind deutlich seltener geimpft. Wer an Verschwörungstheorien glaubt, hat mit größerer Wahrscheinlichkeit im Streit über die Corona-Pandemie auch Freunde verloren. Während nur 9 Prozent der Befragten, die nicht zu Verschwörungstheorien neigen, angeben Freundschaften seien zerbrochen, sagen dies 29 Prozent derjenigen, die glauben, die Pandemie sei ein Schwindel.

Wir erleben gegenwärtig, dass der Krieg in der Ukraine und die Not von Tausenden Flüchtlingen dazu führen, die Solidaritäts- und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft erneut zu aktivieren.

Dr. Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung

Erschöpfte, aber keine gespaltene Gesellschaft

Insgesamt zeichnet die Umfrage das Bild einer von den langen Monaten der Pandemie erschöpften und ausgelaugten Gesellschaft. Eine dramatische Spaltung oder konfrontative Lagerbildung ist dennoch nicht auszumachen. Gleichwohl wird deutlich, dass ein Schwinden des Zusammenhalts nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen betrifft. Offen bleibt, was es für die Qualität des sozialen Miteinanders bedeutet, wenn die Gesellschaft von der einen Krise unmittelbar in die nächste überwechselt und sich Stressfaktoren für einzelne Bevölkerungsgruppen möglicherweise potenzieren.