Kinder machen einen Stuhlkreis
© Ulfert Engelkes

Von der wohnortnahen Integration zum umfassenden Inklusionsverständnis: Friedenauer Gemeinschaftsschule

Die Friedenauer Gemeinschaftsschule wurde im Jahr 2012 in einem Fusionsprozess von vier Schulen gegründet: zwei Grund-, eine Haupt- und eine Realschule sind in einer Schule aufgegangen. Aufgrund der Zusammenlegung befindet sich die Schule in verschiedenen Gebäuden, die aber alle fußläufig gut zu erreichen sind. Die beiden Grundschulen hatten bereits seit 1982 Erfahrungen mit dem Modell der „wohnortnahen Integration“ von Schüler:innen mit Behinderung sammeln können. „Inklusion bedeutet für uns die Akzeptanz und Wertschätzung der Heterogenität aller Kinder, unabhängig von ihren Begabungen, Beeinträchtigungen, Geschlechterrollen, ihrer ethnischen, nationalen und/oder sozialen Herkunft oder anderen kategorialen Eigenschaften“, beschreibt die Schule ihr Selbstverständnis. Von den rund 840 Schüler:innen haben im Durchschnitt ca. 60 Prozent einen Migrationshintergrund und 14 Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf.

Aufgrund von 13 Kitakooperationen wird versucht, direkt im vorschulischen Bereich einen sehr schonenden Übergang von der Kita in die Schule zu ermöglichen. Vor der Einschulung gehören dazu Kennenlernen-Gespräche mit den Eltern, der direkte Austausch zu den Erziehern, Hospitationen in den Kitas bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, Schnuppertage mit den Vorschulkindern oder ein sehr schonender Ankommens-Prozess durch die „Sommerakademie“ des Ganztagsbereiches.

Unterrichtet wird in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen die jeweils drei Jahrgänge umfassen: 1-3, 4-6, 7-9 sowie im 10. Jahrgang – bis zum Schuljahr 2020/21 werden auch die letzten Klassen der Sekundarstufe 1 jahrgangsgemischt sein. Eine gymnasiale Oberstufe ist in Planung und soll ab 2021/22 aufgebaut werden. Zudem gibt es eine Willkommensklasse für Kinder ohne Deutschkenntnisse in den ersten beiden Jahrgängen und weitere vier Willkommensklassen für Jugendliche ab dem 7. Jahrgang. Eine Besonderheit der Schule ist das Produktive Lernen. Es stellt eine Form des Lernens mit starken praktischen Handlungsanteilen dar und richtet sich an solche Schüler*innen der 9. und 10. Jahrgangsstufe, deren Schulabschluss gefährdet ist.

Unabhängig von der Lerngruppe oder dem angestrebten Abschluss, beginnt der Tag mit der „Ankommenszeit“ und einer anschließenden morgendlichen Gruppenzeit. Hier tauschen die Schüler*innen Informationen über das Weltgeschehen oder persönliche Erlebnisse aus. Montags wird diese Zeit für Kinder ab der Mittelstufe auch dafür genutzt, zu planen, wann welches Lernbüro besucht wird und welche Fächer dort vertieft werden sollen. In den Klassen 1-6 arbeiten die Kinder in Mathe, Deutsch und Englisch mit Lernwegen: Jedes Kind kann hier nach seinem Tempo auf dem jeweiligen Lernweg vorankommen. In den Jahrgängen 7 bis 9 arbeiten die Schüler*innen in diesen Fächern in Lernbüros. Zum Arbeiten nutzen sie die Lernpläne der einzelnen Fächer. Hierauf stehen Aufgaben, die sie nacheinander und in ihrem eigenen Tempo bearbeiten. Zudem ist vermerkt, welche Fähigkeiten dabei als Grundlage auf jeden Fall erlernt werden sollten, da sie für die anschließende Überprüfung der Lerneinhalte zentral sind. Ablauf für die kommende Woche, Lernziele und Erreichtes notiert jede*r selbst in seinem Logbuch. 

Viele Aufgaben können in Partner- oder Gruppenarbeit erledigt werden. Schüler*innen mit den Förderbedarfen Geistige Entwicklung und Lernen erhalten ein auf ihren Lernstand angepasstes Material, wobei darauf geachtet wird, dass das Lernen am gemeinsamen Gegenstand eingehalten und gemeinsame Lernmöglichkeiten mit Mitschülern geschaffen werden. Bei Unklarheiten versuchen die Schüler*innen, sich zunächst selbst mit den im Klassenraum vorhandenen zahlreichen Materialien zu helfen und Klassenkamerad*innen zu befragen. Bei Schwierigkeiten kann die anwesende Lehrkraft weiterhelfen und auch bei der Ergebniskontrolle unterstützen. Insgesamt sollen die Schüler*innen in ihrer Selbstorganisation und Selbstreflexion gefördert werden und Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen.

Im Fachunterricht werden neben den Fach- und Klassenlehrern*innen auch Erzieher*innen eingesetzt, die gemeinsam mit den Klassenleitungen Verantwortung übernehmen. Die Schule beschreibt die Teamarbeit so: „Das Team aus Lehrkräften, Sonderpädagogen und Erziehern sitzt einmal wöchentlich, verbindlich im Stundenplan verankert, für den gemeinsamen Austausch über Inhalte und Kinder zusammen. Die Leitungen der Ganztagsbereiche sind [zudem] in den Leitungsstrukturen fest eingebunden. Leitung im Team vorzuleben heißt, Vielfalt zu erlauben und nicht davon auszugehen, dass eine Person allein alles richtig kann und weiß.“ Dieses Grundverständnis trägt zur Verzahnung des Ganztagsangebots und des Unterrichts bei. Darauf legt die Schule sehr viel Wert. Ein Beispiel dafür sind auch regelmäßige „Fallteams“, in denen unter multiprofessioneller Zusammensetzung von Leitungsmitgliedern, Sozialarbeitern, Sonderpädagogen, Schulpsychologen und externen Beratern Unterstützungsmöglichkeiten bei sehr herausfordernden Schülern besprochen werden.

Neben den typischen Unterrichtsfächern haben die Schüler*innen ab der 4. Klasse die Möglichkeit, aus einer Vielzahl an Wahlpflichtkursen zu wählen. Sie können etwa in der Holzwerkstatt arbeiten, in der Schulband musizieren sowie zahlreiche sportliche oder künstlerische Angebote wahrnehmen. Im Bewegungsraum werden auch spezielle Kurse wie Psychomotorik unter Anleitung einer Therapeutin angeboten. Andere Kinder beschäftigen sich mit den Therapiebegleithunden, gehen zur Leseförderung oder nehmen am „Babywatching“ teil. Um die Empathie der Schüler*innen zu fördern, zeigen Eltern den Umgang und die Interaktion mit ihren Babys. Besonderes Augenmerk wird bei den Jahrgängen 1 bis 6 auf die musisch-ästhetische Erziehung gelegt. Im eigenen Theaterraum wirken alle Schüler*innen an verschiedenen Theaterproduktionen mit. Ab der 7. Klasse gibt es Angebote zur Berufs- und Studienorientierung.

Für diejenigen Jugendlichen, die ihren Schulabschluss unter normalen Unterrichtsbedingungen nicht erreichen können, bietet die Friedenauer Gemeinschaftsschule das „Produktive Lernen“ an. Dabei haben die Schüler*innen nur noch an zwei Tagen Unterricht und verbringen die übrige Zeit in den umliegenden Betrieben, um frühzeitig berufliche Erfahrungen zu sammeln. Jenseits des klassischen Unterrichts erbringen die Jugendlichen so alle Leistungen, die sie für den Schulabschluss benötigen.

Kinder und Jugendliche aller Jahrgänge, die dem Unterricht nicht durchgehend konzentriert folgen können oder starke Auffälligkeiten im Verhalten zeigen, können am Projekt „Übergang“ teilnehmen. Das Ziel ist die bessere Integration in ihren Klassenverband. Das Projekt rückt Kooperation, Beratung, Anerkennung und Vernetzung in den Mittelpunkt der Förderung. Die teilnehmenden Schüler*innen lernen stundenweise außerhalb der Klasse, bleiben aber Teil dieser Gemeinschaft. Ein vergleichbares Konzept verfolgt das Projekt „Lernbüro 2.0“. Hier erhalten Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt „Lernen“ an drei Tagen in der Woche Unterstützung. 

Anhand dieser Projekte wird deutlich, dass die Friedenauer Gemeinschaftsschule ihr Motto „Schule für ALLE“ bis ins Kleinste lebt. Jedes Mitglied der Schule erhält zahlreiche Möglichkeiten, sich in der Gemeinschaft individuell zu entwickeln und zu entfalten. Der Anspruch der Schule an sich selber ist: „Kein Kind soll unsere Schule verlassen, ohne die eigenen Stärken zu kennen und besondere Talente oder Leidenschaften ausprobiert zu haben.“ Um das zu erreichen, versucht die Schule durch verschiedene Angebote, alle Schüler*innen in allen Lebenslagen möglichst individuell zu unterstützen. Juliane Winkler, Leiterin des Ganztags der Grundstufe, sagt: „Ich glaube, dass wir an vielen Stellen schon richtig viele gute Lösungen gefunden haben und manchmal viel zu wenig wissen, wieviel gute Lösungen wir schon haben. Und das ist vielleicht ein Geschenk mit dem Preis, dass wir innehalten und sagen können, wow, das haben wir schon geschafft. Und gleichzeitig zeigt uns der Alltag an Einzelfällen, dass wir immer noch nicht weit genug sind, und dass wir immer noch unseren Spielraum erweitern müssen und weiter lernen müssen.“ Um das zu erreichen, bestreitet die Schule ihren Alltag mit einer großen Portion Kreativität und Einfallsreichtum – jeden Tag.

Die Schulportraits sind jeweils zum Zeitpunkt der Verleihung des Jakob Muth-Preises entstanden und bilden die Schule zu dem entsprechenden Zeitpunkt in ihrer pädagogischen und didaktischen Arbeit ab. Inzwischen können sich Änderungen ergeben haben. Wir bemühen uns, die Webadressen aktuell zu halten.

Kontakt:

Friedenauer Gemeinschaftsschule
Rubensstraße 63
12157 Berlin
Schulleitung@fgs.schule.berlin.de
http://friedenauer-gemeinschaftsschule.de/home/

Schulleitung zum Zeitpunkt der Bewerbung: Uwe Runkel