Deliberative Ansätze und Methoden können unsere Demokratie auf vielfältige Weise bereichern. Durch den direkten Austausch zwischen Bürger:innen und politischen Entscheidungsträger:innen können sich nicht nur die politischen Antworten auf komplexe Herausforderungen selbst verbessern, sondern auch das Vertrauen in das demokratische System insgesamt gestärkt werden.
Doch Deliberation ist in der Praxis kein Selbstläufer und muss sich durch einige Qualitätskriterien auszeichnen.
Deliberative Demokratie: Den Bürger:innen eine Stimme geben
Westliche Demokratien basieren typischerweise auf repräsentativen Entscheidungssystemen, die in einigen Ländern durch direktdemokratische Elemente ergänzt werden. Deliberative Ansätze können diese Demokratiemodelle erweitern, indem die Bürger:innen auch über Wahlen hinaus stärker in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Im Idealfall kann sich die Öffentlichkeit an einem ergebnisoffenen und für alle zugänglichen Diskurs zu den wichtigen Themen beteiligen. Als Expert:innen ihres eigenen Lebensumfelds bringen Bürger:innen in einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts ihre verschiedenen Sichtweisen ein, tragen ihre Bedenken vor und diskutieren Fakten und andere Auffassungen. Ziel ist es, durch
'den zwanglosen Zwang des besseren Arguments`
Jürgen Habermas, deutscher Philosoph und Soziologe
zu gut „informierten und einvernehmlichen Ansichten“ (Fishkin) zu gelangen.
In den letzten Jahren wurden auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene Ansätze implementiert, um Qualität, Transparenz und Akzeptanz von Entscheidungsprozessen zu verbessern. Den Bürger:innen wurde vielfach ein Mitspracherecht in Angelegenheiten der Stadtplanung, des öffentlichen Haushalts oder sogar in weitreichenden Verfassungsfragen eingeräumt. Beispielhaft ist die Beteiligung der Iren im Rahmen der Irish Citizens' Assembly zur Gestaltung des Abtreibungsgesetzes. Deliberative Formate wurden darüber hinaus z. B. in den Bürgerdialogen der Europäischen Kommission oder in der französischen Convention Citoyenne pour le Climat (Bürgerkonvent für das Klima) eingesetzt.
Was deliberative Demokratie bewirken kann
Die Vorstellungen über den Umfang des politischen Einflusses von Bürger:innen und ihrer Beteiligung an der repräsentativen Demokratie verändern sich. Studien zeigen, dass sich die meisten Bürger:innen mehr Gehör und Einbindung in politische Entscheidungsprozesse wünschen. In Deutschland fordern über 80 Prozent der Bürger:innen eine stärkere Beteiligung an der politischen Debatte und an der Entscheidungsfindung. Deliberative Demokratie und ihre verschiedenen Formate schaffen einen Mehrwert für die Demokratie:
Deliberation kann zu besseren politischen Entscheidungen führen. Die Forschung zeigt, dass Bürger:innen unter guten Rahmenbedingungen zu einer qualitativ hochwertigen Deliberation und Entscheidungsfindung im Stande sind. Politiker:innen erhalten Vorschläge, erweitern ihr Wissen und können ihre Entscheidungen verbessern. Dank dieses lebendigen Austauschs kann die Akzeptanz der Bürger:innen für das politische System wachsen.
Deliberation kann Polarisierung überwinden und gesellschaftliche Gräben überbrücken. Es ist erwiesen, dass in deliberativen Diskursformen extreme Ansichten tendenziell abnehmen. Indem alle Ansichten gleichberechtigt berücksichtigt und konsensuale Lösungen für strittige Fragen gesucht werden, können deliberative Methoden zum Abbau gesellschaftlicher Spaltung beitragen.
Deliberation fördert eine lebendige und vielfältige Demokratie. Die verschiedenen Formen der politischen Partizipation unterstützen sich gegenseitig. Bürger:innen, die sich an Bürgerbeteiligungsprojekten beteiligen, gehen mit größerer Wahrscheinlichkeit zur Wahl. Im Hinblick auf die weit verbreitete Politikverdrossenheit und den zunehmenden Populismus tragen innovative Wege der Bürgerbeteiligung zu einer Stärkung der Demokratie bei.
'Mir gefiel vor allem die Art und Weise, wie die Diskussion geführt wurde: sich auszutauschen, zuzuhören, zu lernen und seine Meinung äußern zu können, ohne beurteilt zu werden, und sie unter Berücksichtigung der erhaltenen Informationen wieder ändern zu können.'
Antwort eines Teilnehmenden auf die offene Frage "Was hat Ihnen an dieser Veranstaltung gefallen?“. Bürgerkonsultationen zur Zukunft Europas: Französisches Bürgerpanel, 25. - 27. Oktober 2018, Paris
Wie deliberative Formate in der Praxis funktionieren
Es gibt viele Formate und Methoden deliberativer Demokratie, wie z. B. Bürgerräte, Mini-Publics, Mini-populous, Bürgerpanels, Zukunftswerkstätten und World-Cafés, um nur einige zu nennen. Die Digitalisierung kann diese Bandbreite noch erweitern.
Drei Beispiele:
Permanenter Bürgerdialog in Belgien
>> Projekt: Das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens hat im Februar 2019 einstimmig beschlossen, seine Bürger:innen an der politischen Entscheidungsfindung zu beteiligen.
>> Methode: Ein ständiger Bürgerrat aus 24 zufällig ausgewählten Bürger:innen unterbreitet dem Parlament politische Vorschläge - auf eigene Initiative oder als Reaktion auf Empfehlungen von regelmäßig einberufenen, unabhängigen und zufällig ausgewählten Bürgerversammlungen. Für das Projekt werden eigene Mittel bereitgestellt.
>> Ergebnis: Das Parlament hat sich verpflichtet, die Empfehlungen der Bürger:innen in den politischen Entscheidungsprozess einzubeziehen.
The Irish Citizens' Assembly
>> Projekt: Die 2016 einberufene Assembly berät über mehrere politische Angelegenheiten, z. B. über das Thema Abtreibung.
>> Methode: Unter dem Vorsitz einer Richterin des Supreme Courts repräsentieren 99 zufällig ausgewählte Bürger:innen die Vielfalt der irischen Bevölkerung. Die Assembly tagte zwölf Mal, um Stellungnahmen von Expert:innen und NGOs zu diskutieren. Sitzungen wurden live übertragen. Die Regierung reagierte auf die Berichte der Assembly.
>> Ergebnis: Der Beratungsprozess führte zu einem Referendum über die Legalisierung von Abtreibung. Das Referendum fand am 25. Mai 2018 statt, der Legalisierung der Abtreibung wurde mit einer Mehrheit von 66,4 Prozent zugestimmt.
Europäisches Bürgerpanel über die Zukunft Europas
>> Projekt: Das erste europäische Bürgerpanel der Europäischen Kommission wurde im Mai 2018 im Rahmen der Europäischen Bürgerkonsultationen abgehalten.
>> Methode: 100 zufällig ausgewählte Bürger:innen aus 27 Mitgliedstaaten trafen sich für mehrere Tage in Brüssel und verfassten Fragen für eine Online-Konsultation über die Zukunft Europas. Das Panel wurde unterstützt von professionellen Moderator:innen und Dolmetscher:innen. Die Teilnehmenden sprachen in ihrer eigenen Sprache.
>> Ergebnis: Ein Online-Fragebogen über die Zukunft der EU. Die Ergebnisse wurden von den Regierungen und Staatschefs bei ihrem informellen Treffen in Sibiu im Mai 2019 diskutiert.
Wie ist deliberative Partizipation erfolgreich?
Deliberative Bürgerbeteiligung ist in der Praxis kein Selbstläufer. Qualitätskriterien sind notwendig.
Um erfolgreich zu sein, muss die deliberative Bürgerbeteiligung ...
... in Entscheidungsprozesse eingebettet und mit einem klaren Mandat ausgestattet sein, um Resonanz und Wirkungen sicherstellen zu können. Die Ergebnisse sollten Teil eines offenen Prozesses sein.
... Themen, Akteure und das Umfeld berücksichtigen. Deliberative Beteiligung erfordert eine sorgfältige und kompetente Prozessgestaltung, die auf den individuellen Kontext zugeschnitten ist.
... vielfältige Teilnehmer:innen einbeziehen. Eine zufällige Auswahl von Bürger:innen ist ein guter Weg, um eine integrative und breite Einbindung in den demokratischen Prozess zu gewährleisten.
... auf ausgewogenen und stets transparenten Informationen für die Teilnehmer:innen wie auch die breite Öffentlichkeit beruhen.
... mit angemessenen Ressourcen ausgestattet sein. Je nach Umfang benötigt der Beteiligungsprozess ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen (für die Koordinierung, den Informationsaustausch, die Aufzeichnung, die Dokumentation und Veröffentlichungen) und genügend Zeit, um die Arbeit abzuschließen.
Deliberative Demokratie in der EU - Viel zu gewinnen, wenig zu verlieren
Die EU hängt wesentlich vom Verhältnis zu ihren Bürger:innen ab. Sie erwarten heutzutage mehr Möglichkeiten für einen offenen Meinungsaustausch auf Augenhöhe und wollen in wichtige Fragen einbezogen werden. Die EU kann davon profitieren, wenn sie den Bürger:innen eine direktere Beteiligung an der Politikgestaltung ermöglicht. Deliberative Prozesse von hoher Qualität sind eine Möglichkeit, Europa seinen Bürger:innen näher zu bringen, und können ihre Identifikation mit dem europäischen Projekt insgesamt stärken.
Message to go:
Autoren
Céline Diebold
celine.diebold@bertelsmann-stiftung.de
Tel. +49(5241)81-81 231
Céline Diebold, Project Manager, Projekt Demokratie und Partizipation in Europa, Bertelsmann Stiftung.
Dr. Marcus Wortmann
marcus.wortmann@bertelsmann-stiftung.de
Tel. +49(5241)81-81 549
Dr. Marcus Wortmann, Project Manager, Projekt Produktivität für inklusives Wachstum, Bertelsmann Stiftung.
Quellen und weiterführende Literatur
- Bächtiger, André, Dryzek, John S., Mansbridge, Jane and Warren, Mark E. (2018), The Oxford Handbook of Deliberative Democracy, Oxford University Press.
- Bertelsmann Stiftung, Allianz Vielfältige Demokratie (2018), Qualität von Bürgerbeteiligung. Zehn Grundsätze mit Leitfragen und Empfehlungen.
- Bertelsmann Stiftung, Staatsministerium Baden-Württemberg (2014), Partizipation im Wandel. Unsere Demokratie zwischen Wählen, Mitmachen und Entscheiden.
- Dryzek, John S. (2000), Deliberative Democracy and Beyond, Liberals, Critics, Contestations, Oxford University Press.
- Fishkin, James S. (2011), When the People Speak, Deliberative Democracy and Public Consultation, Oxford University Press.
- Neblo Michael A. et al. (2018), Politics with the People, Building a Directly Representative Democracy, Cambridge University Press.
- OECD (2020), Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions
- Science, volume 363 (2019), The crisis of democracy and the science of deliberation.
Impressum
Zukunft der Demokratie
© September 2020 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © Twelve Photographic Service
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
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Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.