Gute Bürgerbeteiligung lebt von Vielfalt. Das Instrument der Zufallsauswahl ist eine Methode, die seit der Antike genutzt wird, um Bürgerräte und andere Beteiligungsverfahren vielfältiger und diverser zu gestalten. Die Beteiligung von zufällig ausgewählten Bürger:innen birgt das große Potential, unsere repräsentative Demokratie zu stärken und zukunftsfähig zu machen.
Doch gute Zufallsauswahl bedarf mehr als nur guten Willen. Nur wenn sie bedacht umgesetzt und mit genügend Zeit und Ressourcen ausgestattet ist, kann sie ihre Wirkung voll entfalten.
Seit der Antike ein Werkzeug für mehr Vielfalt
Zufallsauswahl – Vom antiken Griechenland bis zur Gegenwart
Demokratie bedeutet heute meist Wahlen. Aber bereits die antiken Griechen wussten: Demokratie kann und sollte mehr als wählen sein. Im Griechenland der Antike wurden regelmäßig öffentliche und politische Ämter per Los bestimmt. Heutzutage kommt die Zufallsauswahl von Bürger:innen hauptsächlich in Beteiligungsprozessen zur Anwendung. Sie kann ein wirkungsvolles Werkzeug sein, um eine breite Vielfalt von Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen. Jede:r hat die gleiche Chance gehört zu werden. Bürger:innen mit unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven verständigen sich auf einen gemeinsamen Vorschlag. So bekommen Politiker:innen einen unverfälschten Input aus der Mitte der Gesellschaft zu ausgewählten Themen.
Zufallsauswahl kann Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen verbessern
Die Zufallsauswahl von Bürger:innen wird immer stärker ein integraler Bestandteil von Bürgerbeteiligung - über alle politischen Ebenen hinweg. Die Stadt Danzig in Polen behandelt wichtige kommunale Fragen in einem Bürgerrat. Die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien hat einen Bürgerrat eingesetzt, um das Parlament in seiner Arbeit zu unterstützen. Irland hat die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche mit einem Bürgerrat gelöst. Und dies sind nur einige erfolgreiche Beispiele von Bürgerbeteiligung mit zufällig ausgewählten Bürger:innen.
Zufallsauswahl als Instrument für Beteiligung ist großartig – aber keine allumfassende Lösung
Es ist großartig, weil …
Inklusivität: Zufallsauswahl bietet jedem/r dieselbe Chance auf Beteiligung. Jede:r Bürger:in hat die gleiche Chance, ausgewählt zu werden.
Diversität: Durch Zufallsauswahl gelingt es, Gruppen und Bürger:innen zu aktivieren, die sich normalerweise nicht beteiligen.
Unabhängigkeit: Die Zufallsauswahl richtet sich an die durchschnittlichen Bürger:innen. Dies macht es unwahrscheinlich, dass organisierte Interessen die Debatte dominieren. Niemand bekommt eine Sonderbehandlung.
Legitimität: Die Beteiligung einer Vielzahl von Gruppen und Meinungen erhöht oft die Qualität und Akzeptanz der Ergebnisse.
Aber …
Inklusivität: Kann nicht erzwungen werden. Wenn bestimmte Gruppen zurückhaltend sind, wird es schwer, sie zu aktivieren.
Diversität: Um Vielfalt herzustellen, benötigen Prozesse mit Zufallsauswahl bedeutende Ressourcen und Zeit zur Vorbereitung – mehr als andere Werkzeuge.
Unabhängigkeit: Es ist sinnvoll, auch Expert:innen und andere Interessensgruppen zu beteiligen. Dies ermöglicht es den Bürger:innen, relevantes Fachwissen und alle Interessen und Sichtweisen zu berücksichtigen.
Legitimität: Die Zufallsauswahl verbessert Beteiligungsprozesse, ist aber in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Wahlen sind immer noch das am stärksten akzeptierte demokratische Verfahren.
Ein Einblick in die Organisation von Zufallsauswahlverfahren
Theorie
1. Vorbereiten
Worüber sollten die Teilnehmer:innen debattieren?
Was ist die Zielbevölkerung?
Wie vielfältig sollte sie sein?
Wie lange sollte der Prozess dauern?
2. Anpassen
Kriterien für die Auswahl der Teilnehmer:innen werden definiert:
Soziodemographische Kriterien: z.B. Geschlecht, Alter, Wohnort.
Projektrelevante Kriterien: z.B. Bildungsniveau, Einkommen, Meinungen zu bestimmten Themen.
3. Umsetzen
Einladen: Eine gute Einladung ist der Schlüssel, potenzielle Teilnehmer:innen zu erreichen und sie von einer Teilnahme zu überzeugen.
Rekrutierung: Anreize und gute Informationen können die Rücklaufquoten erhöhen.
4. Auswerten
Folgende Probleme können auftreten:
- Einige Gruppen sind unterrepräsentiert. Lösung: Anpassung mit zusätzlichen Kriterien.
- Zu wenig Anmeldungen Lösung: Weitere Rekrutierungsrunden.
Die irische Citizens’ Assembly
1. Vorbereiten
Was: Änderung des irischen Abtreibungsgesetzes und mehr.
Wer/Wie: 100 Teilnehmer:innen aus allen Bereichen der irischen Gesellschaft.
Wie lange: 5 Sitzungen von 10/2016 bis 04/2017.
2. Anpassen
Zufällige Auswahl der Teilnehmer:innen. Inklusivität und Meinungsvielfalt wurden sowohl nach geographischen als auch nach demographischen Kriterien sichergestellt.
3. Umsetzen
Nach einer Zufallsauswahl wurden Einladungen mit umfangreichen Informationen verschickt und mögliche Mitglieder:innen interviewt. Neben der Erstattung von Reise- und Unterkunftskosten wurden nur wenige Anreize gegeben.
4. Auswerten
Während des Verfahrens mussten 53 Mitglieder:innen ersetzt werden. Einige zusätzliche Auswahlrunden waren nötig.
Die EU: Wo Zufallsauswahl bei Bürgerbeteiligung einen Unterschied machen kann.
Populismus weit verbreitet, Politikverdrossenheit, zunehmend fragmentierte Gesellschaften: Die europäische Demokratie steht derzeit vor großen Herausforderungen. Partizipation ist ein Schlüssel, sie zu bewältigen. Bürgerbeteiligung auf EU-Ebene ist jedoch nicht einfach. Die europäischen Bürger:innen unterscheiden sich stark in ihren politischen Erwartungen und in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Herkunft. Bestehende Beteiligungsinstrumente erreichen oft nur bestimmte Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig werden Forderungen nach mehr Demokratie und mehr direkter Bürgerbeteiligung lauter.
Partizipative Prozesse mit zufällig ausgewählten Bürger:innen, welche die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln, sind keine Alternative zum System der parlamentarischen Demokratie in der EU, aber eine wertvolle Ergänzung. Von Danzig bis Irland und Britisch-Kolumbien haben diese Prozesse sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene die Bürgerbeteiligung verbessert. Hier konnte die Zufallsauswahl nicht nur eine integrative Beteiligung gewährleisten. Sie konnte auch dazu beitragen, kollektive Entscheidungen mit einem hohen Maß an öffentlicher Akzeptanz zu treffen, die die bestehenden parlamentarischen Systeme ergänzen. Viele auf EU-Ebene getroffene Entscheidungen könnten von einer solchen zusätzlichen Legitimitätsebene profitieren. Die EU wird häufig als politisch abgehoben und technokratisch angesehen. Der Nachweis, dass alle Bürger:innen ein Mitspracherecht haben und dass die Ideen und Interessen aller Gruppen respektiert werden, könnte ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der demokratischen Qualität der EU sein - ganz zu schweigen von ihrem Image in der Öffentlichkeit.
Populisten, die der EU oft misstrauisch gegenüberstehen, behaupten, sie könnten das Volk als Einheit vertreten - ohne den aktiven Beitrag verschiedenster Parteien und der Bürger:innen. Tatsächlich sind Menschen einer Gesellschaft nie vollkommen homogen; sie sind vielfältig mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen. Vereinbarungen und Kompromisse fallen nicht leicht, sind aber mit den richtigen Instrumenten und ausreichender politischer Bereitschaft möglich. Die Beteiligung mittels Zufallsauswahl kann zeigen, dass „in Vielfalt geeint“ nicht nur eine Phrase, sondern eine klare Antwort auf die Herausforderungen des Populismus ist.
Erfolgreiche partizipative Prozesse mit zufällig ausgewählten Bürger:innen auf der ganzen Welt
Bürgerversammlung der Stadt Danzig: 60 zufällig ausgewählte Bürger:innen trafen sich zwischen 2016 und 2017, um Lösungen für das Problem der Überschwemmungen in der Stadt zu finden. 16 konkrete Vorschläge wurden von der Versammlung ausgearbeitet und von der Stadt Danzig in Kraft gesetzt.
Die französische Bürgerkonvention für das Klima: 150 zufällig ausgewählte Bürger:innen berieten sich zwischen 2019 und 2020 und entwickelten Maßnahmen, um die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 40 Prozent zu reduzieren. Die Ergebnisse werden in einem Bericht des Präsidenten und der Regierung veröffentlicht. Die Konvention ist befugt vorzuschlagen, welche Initiativen in die parlamentarische Entscheidungsfindung gehen und welche per Referendum beschlossen werden.
Die Bürgerversammlung zur Wahlreform in Britisch-Kolumbien, Kanada: 161 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger:innen entwickelten zwischen 2003 und 2004 Reformen des Wahlsystems in Britisch-Kolumbien.
Der Bürgerrat der deutschsprachigen Region Belgiens: 24 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger:innen aus der deutschsprachigen Region Belgiens unterstützten die Arbeit des Regionalparlaments ab 2019.
Das Europäische Bürgerpanel: 100 zufällig ausgewählte Bürger:innen aus ganz Europa kamen in Brüssel zusammen, um Fragen zu einer Konsultation über die Zukunft der EU im Jahr 2018 zu entwerfen.
Message to go:
Autoren
Dr. Christian Huesmann
christian.huesmann@bertelsmann-stiftung.de
Tel.:+49(5241)81-81221
Project Manager, Projekt Demokratie und Partizipation in Europa, Bertelsmann Stiftung
Stefan Roch, PhD
stefan.roch@bertelsmann-stiftung.de
Tel.:+49(5241)81-81126
Project Manager, Projekt Demokratie und Partizipation in Europa, Bertelsmann Stiftung
Quellen und weiterführende Literatur
- Bertelsmann Stiftung (2018): Bürgerbeteiligung mit Zufallsauswahl. Das Zufallsprinzip als Garant einer vielfältigen demokratischen Beteiligung: ein Leitfaden für die Praxis.
- John Gastil and Erik Olin Wright (2019): Legislature by Lot.
- MASS LBP Inc (2017): How to run a Civic Lottery: Designing fair selection mechanisms for deliberative public processes. A Guide and License.
- Adam Cronkright and Simon Pek (2019): Sharing sortition with some soul: How we can generate excitement about sortition with savvy and emotive communication.
Impressum
Zukunft der Demokratie
© Dezember2020 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Anna Renkamp, Dr. Robert Vehrkamp
Titelbild: © PantherMedia / olly18
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.
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Gefördert (teilweise) durch einen Zuschuss der Stiftung Open Society Institute in Zusammenarbeit mit der OSIFE der Open Society Foundations. Unterstützt (teilweise) durch einen Zuschuss der King Baudouin Foundation.