Demokratische Regierungen auf der ganzen Welt suchen zunehmend nach neuen und effektiven Wegen, Bürger:innen politisch zu beteiligen. Dank der einzigartigen Mischung aus Vertrauen zwischen Bürger:innen und Regierung und der Existenz einer lebendigen, technisch versierten Zivilgesellschaft ist Taiwan zu einem Vorreiter bei der Entwicklung und Umsetzung innovativer Bürgerbeteiligung geworden. Zwei Instrumente stechen dabei besonders hervor: die Join platform und vTaiwan.
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The Join platform & vTaiwan
„Sonnenblumen“ für innovative Bürgerbeteiligung
In den letzten zehn Jahren hat sich Taiwan zu einer lebendigen und innovativen partizipativen Demokratie entwickelt. Ein wichtiger Meilenstein in diesem Prozess war die sogenannte
“Sonnenblumenbewegung” im Jahr 2014, als Hunderte von Demonstrant:innen das Parlament besetzten, um gegen ein neues Handelsgesetz mit dem chinesischen Festland zu protestieren. Was in anderen Ländern zu einem dauerhaften Konflikt hätte führen können, war in Taiwan der Ausgangspunkt einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der alten politischen Garde und der innovativen Tech-Community, welche die Demonstrant:innen repräsentierten. Gemeinsam entwickelten und implementierten Zivilgesellschaft, „Civic Hackers” und Regierung mehrere fortschrittliche, partizipative Instrumente. Diese steigerten erheblich den Einfluss der Bürger:innen
auf die politische Entscheidungsfindung, allen voran vTaiwan und die Join platform.
Obwohl sie aus demselben zivilen Grundgedanken der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Regierung entstanden sind, handelt es sich bei vTaiwan und der Join platform um zwei sehr unterschiedliche Instrumente. vTaiwan ist eine hybride Plattform, die von einer Gruppe von „Civic Hackers” unter dem Namen gOv („govzero”) entwickelt wurde. Ziel von vTaiwan ist es, offene und umfassende Konsultationsprozesse zwischen Regierung, Bürger:innen und Stakeholder:innen zu ermöglichen. Die Join platform ist eine staatliche Beteiligungsplattform, die verschiedene Feedback- und Diskussionsmöglichkeiten bietet, sich aber vor allem durch ihre Petitionsfunktion auszeichnet. Jede in Taiwan rechtmäßig ansässige Person kann einen Vorschlag bei der Regierung einreichen und dort um Unterstützung werben. Ein Vorschlag, der mindestens 5.000 Unterstützer:innen findet, muss von den zuständigen Regierungsstellen bearbeitet und mit einer begründeten Stellungnahme beantwortet werden.
Die Join platform: Der Fall Menstruationstassen
Problem:
Menstruationstassen waren in Taiwan lange verboten. Nur bestimmte internationale Produkte durften in Geschäften, aber nicht online verkauft werden. Eine Gruppe von Start-up-Unternehmer:innen wollte das ändern.
Beteiligung
Die Gruppe startete eine Online-Petition auf der Join platform und sammelte innerhalb von zwei Wochen die Unterstützung von 6.100 Personen.
Auswirkungen
Die Gruppe verglich Gesetze anderer Länder, hinterfragte was in Taiwan als Medizinprodukt gilt und entwickelte Ideen für einen besseren Zugang zu Menstruationsprodukten, insbesondere im Internet. Der Vorschlag wurde von den zuständigen Behörden im März 2017 genehmigt.
vTaiwan: Der Fall UberX
Problem:
Die Einführung des App-basierten Taxidienstes Uber Taiwan im Jahr 2013 führte zu Konflikten mit anderen Taxidiensten. Im August 2015 nahm vTaiwan auf Ersuchen mehrerer staatlicher Stellen den Fall Uber auf.
Beteiligung
Stufe I: gOv-Moderator:innen halfen bei der Themenfindung und bewegten potenzielle Teilnehmende von Uber, Taxiunternehmen und politischen Entscheidungsträger:innen zur Teilnahme über das Pol.is Tool.
Stufe II: Mehr als 4.500 Bürger:innen beteiligten sich und stimmten über 145 Stellungnahmen ab. Dabei bildeten sich zwei Gruppen: eine pro und eine contra Uber.
Stufe III: In einer öffentlichen Sitzung mit allen relevanten Stakeholder:innen und der Öffentlichkeit wurden die Ergebnisse aus Phase II verfeinert.
Auswirkungen
Stufe IV: Die Vorschläge aus der öffentlichen Sitzung wurden zu einem Gesetzesentwurf ausgearbeitet und dem Parlament vorgelegt.
Stärken der Join platform
- Unkompliziert
Die Plattform ist übersichtlich, gut gestaltet und macht es leicht, Petitionen einzureichen und um Unterstützung zu werben. Bis Juni 2022 wurden 13.853 Vorschläge eingereicht, von denen 289 den Schwellenwert erreichten. - Starke Institutionalisierung
Die Beteiligungsbeauftragten unterstützen die Petitionssteller:innen, steuern und erleichtern das Verfahren. Der Prozess ist zügig und die Rückmeldungen der Behörden sind gründlich und ernsthaft.
Grenzen der Join platform
- Mangelnde Deliberation
Obwohl die Bürger:innen Kommentare und Vorschläge einreichen können und die Regierung sich mit den aufgeworfenen Fragen befasst, gibt es im Petitionsverfahren kaum tiefergehende Interaktion. - Niedrige Schwelle
Die Schwelle ist mit 5.000 Unterstützer:innen niedrig. In Lettland braucht eine Petition auf der öffentlichen Plattform ManaBalss.lv 10.000 Unterzeichner:innen, um weiterzukommen. Eine niedrige Schwelle kann zu geringer Vielfalt unter den Unterstützer:innen führen.
Stärken von vTaiwan
- Engagiert, offen und innovativ
vTaiwan ermöglicht einen engagierten und offenen Beteiligungsprozess in mehreren flexiblen Phasen. Die Meinungsbildungsphase kann mehrere Runden dauern, bei denen verschiedene Online-Tools wie Pol.is oder Sli.do verwendet werden. - Konsens in der Online-Interaktion
Durch den Einsatz von Konsensfindungsinstrumenten wie Pol.is und durch Unterstützung der Stakeholder:innen ist vTaiwan ein Vorbild für konstruktive und interaktive Onlinebeteiligung.
Grenzen von vTaiwan
- Komplex und technologieintensiv
Mehrere Phasen und intensives Engagement sorgen für einen anspruchsvollen Beteiligungsprozess, können aber die Inklusivität behindern. Technisch versierte und gebildete Teilnehmende sind im Vorteil. Daher wird vTaiwan hauptsächlich für digitalpolitische Themen verwendet. - Mangelnde Institutionalisierung
Es ist schwierig, ein Gleichgewicht zwischen offenen und flexiblen Prozessen einerseits und klareren Regeln und Strukturen andererseits zu finden. Die Regierung kann sich weigern, Themen auf vTaiwan zu erörtern.
„No perfect offering“ aber viel Inspiration: Was andere von Taiwan lernen können
Auf die Frage, was andere Länder von Taiwan lernen können, antwortete die Ministerin für Digitales, Audrey Tang, sie habe “kein perfektes Angebot“ („no perfect offering“). Es wäre unmöglich, die einzigartige taiwanesische Mischung aus gesundem Menschenverstand, Vertrauen in Behörden und lebendiger Protestkultur direkt auf einen anderen politischen Kontext zu übertragen. Taiwan bietet kein vorgefertigtes Modell, sondern vielmehr die Einsicht, dass kontinuierliche Experimente und Innovationen im Bereich der Bürgerbeteiligung notwendig sind, um veraltete Ansätze zu verbessern und Neue zu entwickeln.
Die Erfahrungen mit der Join platform und vTaiwan sind deshalb ein willkommenes Testfeld für innovative Formate, die verschiedene Instrumente, Methoden und Strategien kombinieren. Eine wichtige Lehre aus beiden Instrumenten ist die Notwendigkeit einer partizipativen Kultur und
Infrastruktur innerhalb der Regierung und des öffentlichen Dienstes. Beide Instrumente funktionieren, weil Zweck und Funktionsweise für die Regierung und die Bürger:innen deutlich sind. Des Weiteren sind sie eingebettet in eine innovative Beteiligungsinfrastruktur – Beteiligungsbeauftragte erleichtern die Mitwirkung und Politiker:innen zeigen sich offen gegenüber der Civic-Tech-Bewegung und dem
Input der Bürger:innen.
Für Taiwan besteht die Herausforderung darin, weiter ein ausgewogenes Verhältnis zwischen experimentellen Partizipationsmethoden und wirksamen Ergebnissen für die Bürger:innen zu finden. vTaiwan war einst ein bahnbrechendes Instrument partizipativer Demokratie, doch mit der Zeit zeigten sich die Nachteile seiner Komplexität und seiner technischen Ausrichtung. Andere Alternativen wie die Join platform gewannen an Popularität. Während der Corona-Pandemie gelang es Taiwan, mehrere innovative und wirksame politische Neuerungen einzuführen, die das Vertrauen der Bürger:innen in ihr politisches System stärkten. Wenn Taiwan diesen Weg fortsetzt, wird es auch in kommenden Jahren eine Inspiration für digitale Demokratien weltweit sein.
Über Taiwan
Gesamtbevölkerung
23.5 Millionen (etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung)
Bevölkerungsdichte
641 pro km2 (etwa dreimal so hoch wie in Deutschland)
Rang im BTI-Transformationsindex, 2022
3 (von 137 Ländern)
Rang im V-Dem participatory principle of democracy Index, 2022
4 (Deutschland: 20)
Partizipative Innovationen in Taiwan
Der „Presidential hackathon“ ist eine Plattform zur Vernetzung der Tech-Community und der Regierung, um auf Grundlage offener Daten neue Lösungen durch innovative Ideen zu erforschen.
Das „Social innovation lab“ wurde 2017 in Taipei als Drehscheibe für alle sozialen Innovationsinitiativen in Taiwan eröffnet. Die Ministerin für Digitales, Audrey Tang, besitzt ein eigenes Büro im Lab.
„Media literacy“ wurde in die Lehrpläne der Schulen Taiwans aufgenommen und beinhaltet u. a. die kritische Nutzung sozialer Medien, die Erkennung von Falschinformationen im Netz und die Produktion eigener digitaler Inhalte.
Message to go:
Autoren
Stefan Roch
stefan.roch@bertelsmann-stiftung.de
Charlotte Freihse
charlotte.freihse@bertelsmann-stiftung.de
Bruno Kaufmann
bruno.kaufmann@swissdemocracy.foundation
Weiterführende Literatur
Dominik Hierlemann & Stefan Roch (2020). Digital Democracy: What Europe can learn from Taiwan.
Taiwan Country Report.
The Join platform.
The vTaiwan platform.
The UberX case.
The menstrual cups case.
Yu-Tang Hsiao et al. (2018). vTaiwan: An Empirical Study of Open Consultation Process in Taiwan.
Audrey Tang (2022). What the World Can Learn From Taiwan’s Digital Democracy. Wired.
Ming-sho Ho (2022). Exploring Worldwide Democratic Innovations – a case study of Taiwan.
Impressum
Zukunft der Demokratie
© September 2022 Bertelsmann Stiftung
Bertelsmann Stiftung | Carl-Bertelsmann-Straße 256 | 33311 Gütersloh
www.bertelsmann-stiftung.de
Verantwortlich:
Dr. Dominik Hierlemann, Prof. Dr. Robert Vehrkamp, Anna Renkamp
Titelbild: © Getty Images/iStockphoto/LeoPatrizi
Die Reihe shortcut präsentiert und diskutiert interessante Ansätze, Methoden und Projekte zur Lösung demokratischer Herausforderungen in einem komprimierten und anschaulichen Format. Das Programm Demokratie und Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht es in unregelmäßigen Abständen.