Lehrer und Lehrerinnen stehen in einem Klassenraum und hören dem Redner zu
© Veit Mette

Rahmung durch die wissenschaftliche Leitung: Von der Theorie in die Praxis – Lehrerinnen und Lehrer lernen – Vielfalt fördern

Autor*innen: Christian Fischer und Bettina Amrhein

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) hat sich Deutschland der Aufgabe verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu gestalten. Zwischen 2000 und 2010 hat sich der Schüleranteil mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der integrativ in allgemeinbildenden Schulen unterrichtet wird, bereits verdoppelt (Klemm 2013). Zudem nimmt im deutschen Bildungssystem der Anteil jüngerer Menschen mit Migrationshintergrund an der gleichaltrigen Bevölkerung kontinuierlich zu (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Zudem zeichnet sich mit Blick auf den demografischen Wandel in den Strukturreformen des Sekundarbereichs ein Trend zur Zweigliedrigkeit ab, sodass als Alternative zum Gymnasium zunehmend neue Schulformen entstehen, die die Schülerschaft integriert unterrichten. Mit der steigenden Übergangsquote zum Gymnasium nimmt auch an dieser Schulform die Vielfalt der Schüler/-innen und damit der Bedarf an individueller Förderung stetig zu (Fischer 2014).

Das deutsche Schulsystem steht aufgrund dieser gesellschaftlichen Veränderungen erneut vor zentralen Herausforderungen im Umgang mit Vielfalt, welche eine adäquate Qualifizierung von Lehrkräften erfordern. Im Rahmen eines umfassenden Inklusionsverständnisses (z.B. Deutsche UNESCO-Kommission 2014), das verschiedene Heterogenitätsdimensionen (wie z.B. Geschlecht, Behinderung, Begabung, Sprache, Kultur) erfasst, wird ein potenzialorientierter Umgang mit der Vielfalt aller Schüler/-innen zunehmend bedeutsam. Zunehmend rückt dabei auch der Aufbau multiprofessioneller Kompetenzen in den Mittelpunkt. Nicht erst mit Einzug der Inklusionsthematik in das deutsche Bildungssystem ist das Thema Vielfalt fördern in der Lehrer/-innenbildung ein Dauerbrenner (z. B. KMK 2014). Zum Umgang mit Heterogenität in der Schule haben Wissenschaft wie Praxis unzählige Beiträge vorgelegt und auch die Lehrer/-innenbildung bemüht sich seit Jahrzehnten um einen entsprechenden Kompetenzaufbau.

Trotzdem scheint vor dem Hintergrund der bereits lange andauernden Debatte um ein Recht auf individuelle Förderung in der Schule und den hier nur kurz skizzierten Herausforderungen verwunderlich, dass es offensichtlich nach wie vor erheblichen Professionalisierungsbedarf bei Lehrkräften im kompetenten Umgang mit der Vielfalt von Schüler/-innen im Unterricht gibt, was auch in den internationalen Schulvergleichsstudien hervorgehoben wird (z.B. Bos et al. 2012a und b).

Zur Rolle der Lehrer/-innenfortbildung

Da die Lehrer/-innenausbildung schulische Wirkungen erst langfristig entfalten kann, hat die Fortbildung von im Beruf befindlichen Lehrkräften besondere Relevanz, weil auf diesem Wege die Unterrichtswirklichkeit relativ direkt beeinflusst werden kann (Terhart 2015). Dabei erkennen die in den letzten Jahren entstandenen Studien durchgehend einen deutlichen Verbesserungsbedarf für die Konzeption der Lehrer/innenfortbildung (Müller et al. 2010). Wissenschaftliche Befunde zeigen, dass selbst in schulinternen Fortbildungen, die maßgeschneidert für die jeweilige Schule sein sollten, das eigentlich vorhandene Potenzial noch nicht hinreichend genutzt wird oder die erzielte Wirkung unzureichend ist (vgl. OECD 2009, zit. nach Müller et al. 2010). Die in den Fortbildungen behandelten Themen finden häufig nur bedingt Eingang in den Schul- und Unterrichtsalltag. Müller et al. (2010) stellen fest, dass gerade die besonders wirksamen Angebote der Lehrer/-innenfortbildung – solche mit einer längeren Dauer, mit einem Wechsel von Praxis- und Reflexionsphasen und einer starken Vernetzung zwischen den sich fortbildenden Lehrpersonen – jene sind, die häufig am wenigsten wahrgenommen bzw. nicht in ausreichendem Maße angeboten werden. "Mehr noch: Viele Lehrkräfte nehmen selten, manche praktisch gar nicht an Fortbildungen teil" (Müller et al. 2010: 10). Auch die OECD weist darauf hin, dass das Potenzial der Lehrer-innenfortbildungen noch nicht ausreichend ausgeschöpft wird (vgl. OECD 2008). Folgt man Lipowskys empirischen Ergebnissen (2010), so erfährt Lehrerfortbildung dann eine hohe Akzeptanz, wenn sie in Input-, Erprobungs- und Reflexionsphasen ausgestaltet ist, also einen spiralförmigen Charakter aufweist. Hier scheinen gegenseitige Hospitationen, das sogenannte Tandem-Lernen und das Bearbeiten von Fallgeschichten zu konkreten Unterrichts- und Sozialsituationen, in das eine systematische Reflexionsarbeit einbezogen wird, längerfristig besonders wirksam zu sein (ebd.).

Dieser verstärkte Blick auf Nachhaltigkeit in Bezug auf eine Reform des schulischen Lehrens und Lernens an der jeweiligen Einzelschule war handlungsleitend bei der Konzeption der Maßnahme Vielfalt fördern. So wurde einer reinen Fokussierung auf Kognition im Sinne eines isolierten Kompetenzaufbaus bei einzelnen Lehrkräften ohne den Blick auf unterschiedliche Rahmenbedingungen am jeweiligen Schulstandort entgegengewirkt. Vielmehr stand der Aufbau reflexiver Kompetenzen im Team im Sinne einer Learning Community im Vordergrund. Damit überschreitet die Maßnahme bei Weitem den üblichen Rahmen von Lehrer/-innenfortbildungen, die in Deutschland häufig als singuläre Einzelveranstaltungen zu bestimmten Themenschwerpunkten angelegt sind.

Adaptive Lehrkompetenz

Ein entscheidendes Profilmerkmal von Vielfalt fördern ist die starke Orientierung an neueren Erkenntnissen der Lehr-Lern-Forschung und hier insbesondere am Konzept der adaptiven Lehrkompetenz (Beck et al. 2008), das als Grundlage für den Erwerb professioneller Kompetenzen (Baumert & Kunter 2006) im kompetenten Umgang mit Vielfalt gelten kann. Das Konzept der adaptiven Lehrkompetenz umschreibt die Fähigkeit von Lehrpersonen, die Planung und Durchführung des Unterrichts so auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler/-innen und der je gegebenen Situation auszurichten, dass für möglichst viele Schüler/-innen bestmögliche Bedingungen für das Erreichen der Lernziele bestehen. Als zentrale Komponenten adaptiver Lehrkompetenz gelten angelehnt an Helmke (2014) die Sachkompetenz, diagnostische Kompetenz, didaktische Kompetenz und Klassenführungskompetenz.

Lehrkräfte müssen über professionelle Kompetenzen verfügen, um die individuelle Lernausgangslage bezogen auf Potenziale und Interessen zu identifizieren (Diagnostik) und um mit angemessenen Lernangeboten Potenziale fördern und kompetenzorientiert unterrichten (Didaktik) zu können. Bezogen auf den Umgang mit Vielfalt erweist sich eine Erweiterung des Kernkonzepts adaptiver Lehrkompetenz um die Beratungskompetenz (Klieme & Warwas 2011) und Kooperationskompetenz nicht zuletzt zur Teamentwicklung im Kollegium als bedeutsam, die verbunden mit der Klassenführungskompetenz Ebenen der kommunikativen Kompetenz beschreiben (Fischer 2014). Als Querlage zu den genannten Kompetenzbereichen bestimmt die professionelle pädagogische Haltung den potenzialorientierten Einsatz diagnostischer Instrumente, didaktischer Konzepte oder kommunikativer Ansätze in der diagnosebasierten individuellen Förderung von Schüler/-innen (Behrensen et al. 2014).

Potenzialorientierung im (inklusiven) Unterricht

Damit bietet das Konzept der adaptiven Lehrkompetenz auch eine hervorragende Grundlage für die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts (Amrhein & Reich 2014). Daher gilt es zu beachten, dass eine inklusive (Fach-)Didaktik nicht isoliert operieren kann. Sie ist angewiesen auf ein ganzheitlich orientiertes und auf individuelle Förderung fokussiertes Modell. Dieses ist grundsätzlich vom Willen getragen, die Chancengerechtigkeit im Erziehungs- und Bildungssystem zu erhöhen und Diskriminierungen zu vermeiden (Booth & Ainscow 2002).

Auch vor dem Hintergrund der internationalen Schulvergleichsstudien (z. B. PISA, IGLU, TIMSS) gewinnt der potenzialorientierte Umgang mit der Vielfalt der Kinder und Jugendlichen zunehmend an Bedeutung. Dass belegen etwa die Ergebnisse der PISA-Studien zwischen 2000 und 2009, die positive Veränderungen im Lesen wie in der Mathematik vor allem in sogenannten leistungsschwächeren Gruppen zeigen, wogegen die Anteile der sogenannten leistungsstärkeren Schüler/-innen, die die höchsten Kompetenzstufen erreichen, in beiden Domänen stagnieren (Klieme et al. 2010).

Solche Befunde weisen auf die Notwendigkeit der Unterrichtsentwicklung, fokussiert auf individuelle Förderung, hin – neben der gezielten Unterstützung von Kindern auf den sogenannten unteren Kompetenzstufen ist auch die gezielte Förderung von Kindern auf den sogenannten oberen Kompetenzstufen im schulischen Kontext erforderlich (Wendt et al. 2013). Daher gilt es, die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen frühzeitig zu erkennen und individuell in ihrer Vielfalt zu fördern (Arbeitsstab Forum Bildung 2001) sowie gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention (2009) auch Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Persönlichkeit und Begabungen voll zur Entfaltung bringen zu lassen. Neben der interpersonalen Heterogenität gilt es auch die intrapersonale Diversität, etwa von begabten Kindern mit Lernbeeinträchtigungen oder talentierten Jugendlichen aus sozial benachteiligten Lagen, im Sinne der inklusiven Bildung zu berücksichtigen.

Auf dieser wissenschaftlichen Erkenntnis um die häufige Unzulänglichkeit von zur Verfügung stehenden Zuschreibungen oder Kategorien baut das Projekt Vielfalt fördern auf. Indem es gerade an die allgemeinpädagogische Verantwortung appelliert und damit alle Schüler/-innen im Blick behält, trägt es auch in erheblichem Maße dazu bei, dass Lehrkräfte gemeinsam einen sensiblen Umgang mit zur Verfügung stehenden Kategorien im Kontext einer diagnosebasierten individuellen Förderung lernen und ihren Unterricht mehrperspektivisch planen und multiprofessionell umsetzen.

Literatur

Amrhein, B. & Reich, K. (2014). In: Amrhein, B. & Dziak-Mahler, M. (Hrsg.). „Fachdidaktik inklusiv – Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule“. Waxmann.

Arbeitsstab Forum Bildung in der Geschäftsstelle der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (2001). Empfehlungen des Forum Bildung. Bonn.

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2014). Bildung in Deutschland 2014. Bielefeld.

Baumert, J. & Kunter, M. (2006). „Stichwort: Professionelle Kompetenzen von Lehrkräften“. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9 (4), 469–520.

Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (2009). „Alle inklusive! Die neue UN-Konvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (Zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung). Berlin.

Beck, E., Baer, M., Guldimann, T., Bischoff, S., Brühwiler, C., Müller, P. et al. (2008). „Adaptive Lehrkompetenz. Analyse und Struktur, Veränderbarkeit und Wirkung handlungssteuernden Lehrerwissens“. Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie. Bd. 63. Münster: Waxmann.