Zwei Atomreaktoren
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Kernkraft und Krieg: Russischer Angriffskrieg erfordert eine Neubewertung der Kernkraft

Europa wird von einem Paradox beherrscht: Die Sorge um die Sicherheit der ukrainischen Atomreaktoren im Krieg ist international beispiellos. Zudem bestehen auch in westlichen Kernenergiemärkten Abhängigkeiten von Russland. Dennoch setzen gerade jetzt viele europäische Länder auf Atomenergie, wenn es um die Sicherung der Energieversorgung geht.

von Karola Klatt

Die Sorge der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) ist groß, nachdem die Ukraine und Russland sich gegenseitig für den wiederholten Beschuss von Europas größtem im Betrieb befindlichen Kernkraftwerk Saporischschja verantwortlich machen. Direktor Rafael Grossi warnte vor „der sehr realen Gefahr einer nuklearen Katastrophe, die die öffentliche Gesundheit und die Umwelt in der Ukraine und darüber hinaus bedrohen könnte“. Die Anlage auf russisch kontrolliertem Gebiet war schon mehrfach im Fokus des Krieges, ebenso wie das beschädigte Kernkraftwerk in Tschernobyl.

In der Ukraine erleben wir das erste Mal, dass ein bewaffneter Konflikt in der Nähe von Atomkraftwerken stattfindet. Gegen militärischen Beschuss sind Reaktoren nicht ausgelegt. Ihr sicherer Betrieb ist zudem abhängig von der lückenlosen Versorgung mit elektrischer Energie und der Verfügbarkeit von hochspezialisiertem Fachpersonal. Beides ist in einem Krieg gefährdet. Wie nah die russischen Angriffe den ukrainischen Atomkraftwerken in den Monaten des Kriegs bereits gekommen sind, zeigt eine interaktive Karte von Greenpeace.

Neue NATO-Strategie rechnet mit dem Schlimmsten

Die kürzlich verabschiedete neue NATO-Strategie wertet Russland als „größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum“. Auf die neue Situation reagiert die NATO mit Abschreckung durch gigantische Aufrüstung. Man rechnet mit dem Schlimmsten – und das Schlimmste ist ein russischer Angriff auf eine westliche Demokratie. Wie konkret diese Angst geworden ist, sieht man an Finnland und Schweden, die nach langer Zeit der Neutralität nun auch unter den NATO-Schirm streben.

Die Sorge um die Sicherheit der eigenen Atomkraftwerke mag dabei eine Rolle gespielt haben. Finnland hat im März den Testbetrieb für Olkiluoto 3, das weltgrößte Atomkraftwerk, gestartet. Atomkraft soll in vielen europäischen Ländern nicht nur den zeitigen Ausstieg aus der Kohleverstromung möglich machen, sondern nach der russischen Invasion nun auch aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreien und die Energieversorgung sichern.

Europäische Länder bauen Kernkraft aus

Die ambitionierte Energie-Strategie der Regierung Johnson sieht für Großbritannien den Bau von acht neuen Atomreaktoren bis 2030 vor. Damit will man in die Fußstapfen Frankreichs treten, dass dank seiner 56 Atomreaktoren für seine Energieunabhängigkeit bekannt ist. Für das französische Atomwunder macht der Länderbericht Frankreich (2021) der Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann Stiftung vor allem mächtige Lobbygruppen verantwortlich: „Beim Ausbau erneuerbarer Energien liegt Frankreich weit hinter den meisten europäischen Ländern zurück, was auf die wirksame Lobbyarbeit der mit einer der größten Gewerkschaften (CGT) verbündeten Pro-Atomkraft-Eliten zurückzuführen ist.“ Auch im neuen SGI-Länderbericht, der im Herbst veröffentlicht wird, kritisieren die Autoren, die komplexen Genehmigungsverfahren für erneuerbare Energien und den Widerstand von Interessengruppen, die ein Vorankommen anderer Energiearten als der Kernenergie verhindern.

Dabei steht es um die französische Atomenergie derzeit gar nicht so gut. 29 der 56 Reaktoren stehen wegen Regelwartungen oder aufgrund von Korrosionsschäden still. Im Schnitt sind sie mehr als 36 Jahre in Betrieb und damit altersbedingt höchst störanfällig. In ihren Geschäften wie in ihrem globalen Lobbyismus für Atomstrom als grüner Alternative ist die französische Atomindustrie zudem enge Kooperationen mit dem russischen Staatskonzern Rosatom eingegangen. Erst im Dezember 2021 wurde eine weitere langfristige strategische Zusammenarbeit zwischen Framatom, einem Tochterunternehmen des französischen Energieversorgers und Kernkraftwerksbetreibers Electricité de France, und Rosatom vereinbart.

Russische Atomtechnik ist in Europa verbreitet

Wie groß der russische Einfluss auf die westlichen Kernenergiemärkte ist, zeigt eine Studie des Columbia Center on Global Energy Policy. Danach gibt es in 18 EU-Ländern russische Kernreaktoren: zwei in Bulgarien, sechs in der Tschechischen Republik, zwei in Finnland, vier in Ungarn und vier in der Slowakei. Fünf weitere Reaktoren russischer Bauart befanden sich 2021 im Bau: einer in Finnland, zwei in Ungarn und zwei in der Slowakei, wobei Finnland kürzlich bereits das Aus für den Reaktorbau mit Rosatom in Hanhikivi verkündet hat.

Auch Tschechien, das derzeit die europäische Ratspräsidentschaft inne hat, ist beim Ausbau erneuerbarer Energien im europäischen Vergleich langsam. Als im Herbst 2021 in Brüssel der europäische Green Deal verhandelt wurde, forderte das Land gemeinsam mit Frankreich die Einstufung der Kernenergie als saubere Energie, um Investitionen für den Bau neuer Reaktoren anzukurbeln. Der SGI-Länderbericht Tschechien 2021 hatte indes bereits gewarnt: „Bei der Auswahl der internationalen Partner, die für den Bau eines neuen Kernkraftwerks benötigt werden, ist Vorsicht geboten. Bei Planung und Berechnung müssen Kosten, nationale Sicherheit und internationale Allianzen sorgfältig ausbalanciert werden.“

Neuausrichtung der nuklearen Lieferketten gestaltet sich schwierig

Da Russland auch bei Dienstleistungen für die Herstellung von Kernbrennstoffen global eine gewichtige Rolle spielt, sind selbst Länder, die keine Reaktoren russischer Bauart betreiben, nicht frei von Abhängigkeiten. Eine Neuausrichtung der Lieferketten in Bezug auf Komponenten und Dienstleistungen für Reaktoren russischer Bauart ist fast unmöglich, da sie in erheblichem Maße vom Hersteller des Reaktortyps abhängig sind. Doch auch bei den Kernbrennstoffen gestaltet sich das Loslösen aus russischer Abhängigkeit in der Lieferkette zumindest schwierig. Das dürfte auch erklären, warum der russische Staatskonzern Rosatom bislang nicht von der EU sanktioniert wurde und Atomkonzerne wie Framatom ihre Geschäftsbeziehungen mit Russland bisher nicht eingestellt haben.

Eine Verbesserung der Resilienz der Energieversorgung und mehr Energieautarkie ist für die meisten europäischen Länder durch den Ausbau der Kernenergie oder Laufzeitverlängerungen für Reaktoren kaum zu erreichen. Zu eng sind die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Rosatom und Abhängigkeiten der europäischen Nuklearindustrie von russischer Atomtechnik und Kernbrennstoffproduktion. Die Neubewertung der militärischen Bedrohungslage für Europa durch die NATO erfordert zudem, auch die Risiken der Kernenergie neu zu überdenken.

Karola Klatt ist freie Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin der SGI News und des BTI Blogs der Bertelsmann Stiftung.

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