Portraitfoto des Schulleiters Jochem von Schwerdtner
© Veit Mette

Willy-Brandt-Gesamtschule Bottrop: Interview mit dem Schulleiter Jochem von Schwerdtner

Ein Interview von Inge Michels und Angela Müncher.

Die Willy-Brandt-Gesamtschule Bottrop hat rund 1.300 Schülerinnen und Schüler und ca. 100 Lehrerinnen und Lehrer. Gut zwei Drittel Ihrer Kollegen hatte sich für Vielfalt fördern entschieden. Da stellt sich die Frage: Wie setzt man an einer so großen Schule eine dreijährige Fortbildung um? 

Jochem von Schwerdtner: Richtig. Die Kritiker bzw. Skeptiker wurden in der Schulkonferenz zwar gehört, aber mit großer Mehrheit überstimmt. Die zögerlichen Kolleginnen und Kollegen brauchten die Sicherheit, dass sich ihr vertrautes Arbeiten nicht von jetzt auf gleich verändern würde. Ich habe in etlichen Gesprächen gesagt: "Wir beginnen sukzessive. Wir gehen die Fortbildung langsam an, lassen Veränderungen organisch wachsen. Wir machen keine Revolution. Schauen Sie sich das erst einmal in Ruhe an." Man muss den Menschen gerade in solch großen Schulen, mit über Jahren gewachsenen und dann gefestigten Kommunikationsstrukturen, Zeit lassen. Aber man darf an dem Ziel selbst keine Zweifel aufkommen lassen. Es gab Kollegen, die sagten: "Ich verstehe das alles, aber ich bin einfach noch nicht so weit."

Was haben Sie denen gesagt?

Jochem von Schwerdtner: Dann habe ich geantwortet: "Okay, nehmen Sie sich die Zeit, ich werde 2 Sie später noch einmal fragen." Und das war der richtige Weg. Ich würde mal vorsichtig sagen, dass heute 85 bis 90 Prozent des Kollegiums den Weg mitgehen. Man vergibt sich als Schulleiter nichts, wenn man Kollegen, die länger am Vertrauten festhalten möchten, diese Zeit zugesteht. Man muss aber Flagge zeigen und die eigene Vision von Schulentwicklung aufrecht halten und immer wieder kommunizieren. Schulleitung besteht zu 90 Prozent aus Kommunikation.

Wie sind Sie mit eigenen Zweifeln umgegangen? Auch wenn man von einem Projekt begeistert ist, kann man ja an dem einen oder anderen Punkt zweifeln.

Jochem von Schwerdtner: Daraus habe ich keinen Hehl gemacht und Zweifel genauso kommuniziert wie Zuversicht. Ich habe hin und wieder gesagt: "Davon war ich jetzt auch nicht so begeistert, aber bitte, lassen Sie uns den gesamten Prozess in den Blick nehmen! Wir haben heute auch Dinge erfahren, gelernt und erarbeitet, die wir gebrauchen können."

Erinnern Sie sich an eine Situation, die kritisch war und die Fortbildung hätte in Gefahr bringen können?

Jochem von Schwerdtner: Ich habe eine Situation noch genau vor Augen. Da gehe ich jetzt aber nicht ins Detail. Bei dieser Situation war es noch einmal wichtig, als Schulleitung laut und deutlich Position zu beziehen und auch auf die Folgen hinzuweisen. Ich habe klipp und klar kommuniziert: Die Fortbildung bietet, bei aller Kritik im Einzelnen, große Chancen. Wenn wir diese Chancen der Unterrichtsentwicklung und des Aufbaus von Teamstrukturen nicht nutzen, dann müssen wir diese komplexen Entwicklungsprozesse selber gestalten. Und das wird mit großer Sicherheit wesentlich aufreibender, dafür erhalten wir dann auch keine Ressourcen. Ich habe auch appelliert: "Lassen Sie uns bitte weitermachen, lassen Sie uns die Dinge rausziehen, die für uns wichtig sind, nutzen wir die Zeit."

Klingt anstrengend.

Jochem von Schwerdtner: Gehört aber dazu, wenn man eine Schule leitet. Solche Prozesse sind völlig normal. Jeder Mensch geht eben mit Herausforderungen und Veränderungen anders um. Ich bin selbst Moderator in der Schulleitungsqualifizierung des Landes NRW und kenne ähnliche Wider- stände an anderen Schulen. Übrigens: Wir haben eine Unterrichtsentwicklungsgruppe, die mit den Moderatorinnen des Kompetenzteams die Vielfalt fördern Projekttage vorbereitet hat. Und die Kolleginnen und Kollegen, die bei Vielfalt fördern noch nicht mitgemacht haben, haben an einem Individualisierungskonzept für Unterrichtsentwicklung gearbeitet. 

Während die einen also bei Vielfalt fördern in ihren Jahrgangsteams gearbeitet haben, entwickelten andere Unterrichtsbeispiele mit Formen des individuellen Lernens. Jeder hat sich also in irgendeiner Weise mit Unterrichtsentwicklung befasst. Und das ist ja das Hauptanliegen von Vielfalt fördern.

Und dadurch konnten Sie Unterrichtsentwicklung systematisch in Gang halten?

Jochem von Schwerdtner: Ja. Es ist für eine Schulleitung schwierig, so einen Prozess fruchtbar und gewinnbringend für alle Kolleginnen und Kollegen über drei Jahre in Gang zu halten. Wir stecken jetzt in einer sehr spannenden Phase, einer Übergangsphase. Wir haben die Teamstrukturen für Unterrichtsentwicklung, ich sage mal vorsichtig, etabliert. Wir haben es geschafft, eine wöchentliche Teamstunde für jedes Jahrgangsteam einzuführen. Das war nicht einfach, das hat meine Stellvertreterin sehr gut gemacht. Ab diesem Jahr sind wirklich alle Sek-I-Klassenlehrer einem Team zugeordnet – bis auf die Beratungslehrer der Oberstufe. Ein absolutes Novum sind auch die regelmäßigen Dienstbesprechungen von Teamsprecherinnen und -sprechern. Skeptischen Kollegen sage ich: "Sie können jederzeit dazukommen, wenn Sie den Eindruck haben, das sei so ein geschlossenes Gremium." Danach höre ich oft: "Ich glaube, wir haben Sie verstanden. Das ist schon okay." Natürlich werden die Protokolle dieser Dienstbesprechungen in den Jahrgangsteams und im zentralen Lehrerzimmer veröffentlicht.

Müssen Sie als Schulleitung in solchen Prozessen Macht abgeben?

Jochem von Schwerdtner: Das ist eine gute Frage. Dahinter steht ja die Überlegung: Wie geht eine Schulleitung insgesamt mit solchen Prozessen und ihren Ergebnissen um? Haben wir Schulleitungen irgendwann nichts mehr zu sagen? Knappe Antwort: Schulleitungen müssen und können Macht abgeben. Das ist so. Wenn man eine Schule nachhaltig entwickeln will, kommt man darum nicht herum. Die Kunst ist, Verantwortung in bestimmten Teilen abzugeben und trotzdem die Gesamtdynamik im Blick zu behalten, damit sie irgendwann nicht in eine falsche Richtung läuft.

Welchen Rat würden Sie Kolleginnen und Kollegen geben, die sich ebenfalls für Vielfalt fördern interessieren?

Jochem von Schwerdtner: Erstens: Achten Sie auf die Transparenz der Ziele und der Prozessabläufe. Zweitens: Seien Sie selber überzeugt von dem Gesamtnutzen und greifen Sie auf alle Ressourcen zu, die Sie angeboten bekommen. Drittens: Rechnen Sie damit, dass Sie einen langen Atem brauchen und haben Sie Verständnis für Kollegen, die zweifeln. Viertens: Kommunizieren Sie Ihre Zwischenbedenken ebenso wie Ihre Vision. Fünftens: Wertschätzen Sie das Engagement Ihres Kollegiums und die vielen positiven Nebeneffekte, die in einem Prozess entstehen und die man am Anfang überhaupt nicht ermessen kann.