Grüne Industrie

Sinkende Emissionen sind nicht genug

Vergangene Woche sorgte eine neue Studie von Agora Energiewende für Aufsehen, wonach die Treibhausgasemissionen in Deutschland 2023 überraschend stark um 73 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen seien. Allerdings, so wurde direkt argumentiert, sei dies weniger auf Klimaschutzbemühungen denn auf eine geringere inländische Energieerzeugung und Wirtschaftsleistung zurückzuführen. Besonders die energieintensive Industrie habe deutliche Rückgänge bei Produktion und Emissionen zu verzeichnen.

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Sara Holzmann
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Dr. Marcus Wortmann
Senior Expert

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Diese Auswertung führt die eigentliche Herausforderung vor Augen, mit der die deutsche Industrienation konfrontiert ist: Es reicht nicht, dass die Emissionen bis 2045 auf Netto-Null sinken, sondern auch die Emissionsintensität unserer Produktion muss fallen. Denn nur, wenn wir pro Einheit Bruttoinlandsprodukt (BIP) weniger und irgendwann fast keine Treibhausgase mehr emittieren, also eine hinreichende Entkopplung erreichen, können wir materiellen Wohlstand über die Transformation hinaus erhalten. Laut Agora seien allerdings nur 15 Prozent der jüngsten Emissionsreduktion, also rund 11 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente, auf dauerhaft wirksame Klimaschutzmaßnahmen zurückzuführen. Allein durch die Fortsetzung dieser politisch erreichten Emissionsminderungen wären die aktuellen Klimaziele nur mit weiteren Wohlstandseinbußen zu erreichen. Denn unterstellt man der Einfachheit halber einen linearen Emissionspfad von 2024 bis zur Klimaneutralität 2045, müssten nach eigenen Berechnungen auf Basis der Agora-Zahlen von nun an 27,6 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente im Jahr eingespart werden.

Um das derzeitige Niveau unseres BIP (gemäß Prognose des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz aus dem Jahr 2023) im Verlauf der nächsten 22 Jahre auch nur halten zu können, müsste unsere Emissionsintensität im Zuge der Transformation durchschnittlich um knapp zehn Prozent jedes Jahr sinken. Soll es derweil auch noch Wachstum geben, zum Beispiel um 1,2 Prozent wie im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte, dann müsste sich dieser Entkopplungsfortschritt auf märchenhafte 11,3 Prozent per annum verbessern. Zum Vergleich: Seit 1991 sinkt die Emissionsintensität im Schnitt um nur drei Prozent jährlich. Bei dieser Rate würde Deutschland 2045 nur noch ein BIP von 650 Milliarden Euro erwirtschaften können, um das Ziel der Klimaneutralität trotz mangelnder Entkopplungsfortschritte erreichen zu können.

Zwar zeigte sich in der letzten Dekade im Vergleich zu den beiden vorherigen Jahrzehnten eine gewisse Beschleunigung des Entkopplungsprozesses, doch bleiben die jährlichen Rückgänge der Emissionsintensität zu gering und sehr volatil. Während die Emissionsintensität von 2020 auf 2021 sogar um ein Prozent anstieg, sank sie bis 2022 wieder um 3,5 Prozent. Vor diesem Hintergrund ist auch die offenbar nun gelungene Verringerung um fulminante 9,4 Prozent zwischen 2022 und 2023 als zweifelhafter Erfolg zu bewerten. Denn dieser vordergründige Fortschritt auf Kosten der konjunkturellen und industriellen Performance ist nicht nur wenig stabil, sondern auch riskant.

Ein solcher Transformationsverlauf liefe Gefahr, den Rückhalt in Wirtschaft und Gesellschaft zu verlieren, weil er als ökonomischer Niedergang mit hohen und ungleich verteilten Belastungen empfunden werden könnte. Zudem käme es bei einer Abwanderung von (energieintensiven) Industrieunternehmen aus Deutschland zu steigenden Emissionen in anderen Teilen der Welt – einem sogenannten Carbon Leakage. Damit wäre für das Klima nichts gewonnen. Ein Erreichen der nationalen Klimaziele zu Lasten der heimischen Fertigung ist auch aus geostrategischen Gründen nicht ratsam, denn angesichts der weltweiten Krisenentwicklungen ist es gefährlich, sich zu sehr auf den Import von Industriegrundstoffen zu verlassen.

Wir müssen also schneller werden mit effektivem Klimaschutz bei gleichzeitigem Industrieerhalt. Unsere Klimaschutzanstrengungen, zu denen wir uns grundgesetzlich und international verpflichtet haben, dürfen wir auch nicht aufgrund von selbstgemachten Haushaltskrisen zurückstellen. Insofern ist es zu begrüßen, wenn die Agora-Studienersteller:innen eine solide Finanzierung der Transformation anmahnen – denn der Weg ist klar und Instrumente gibt es auch. Es braucht dringend massive Investitionen in den klimafreundlichen Umbau industrieller Produktionsverfahren. Hier kommt es auf ein gutes und verlässliches Zusammenspiel von Wirtschaft und Wirtschaftspolitik an, etwa in Form von Klimaschutzverträgen oder den geplanten Investitionsförderungen im Rahmen des Wachstumschancengesetzes. Auch wenn die finanzpolitischen Vorbehalte schon jetzt groß
sind, sollten die Volumina dieser Maßnahmen künftig noch ausgeweitet werden. Das mag den Staat zunächst viel Geld kosten, doch verspricht auch eine Rendite: die Sicherung einer klimaneutralen Basisindustrie in Deutschland.